Freitag, 25. Juni 2010

Es ist an der Zeit ...

Es ist Dienstagabend, gerade einmal fuenf Minuten nach halb elf. Meine Mitbewohner sind schon vor mehr als einer halben Stunde ins Bett gegangen. Nur ich kann nicht schlafen, ich hab' es wieder. Ich hab' nur noch kein Wort dafuer. Ich erinner mich nicht daran, wann ich es zum ersten Mal fuehlte, es mag schon Jahre zurueckliegen. In den letzten zwoelf Monaten hatte ich es so viele Male. Dieses Gefuehl. Es hat mich schweben lassen, es hat mich zu Boden gezerrt und es hat mich neu aufleben lassen. Das Gefuehl vergehender Zeit.

Zeit ist geraeuschlos, unsichtbar, unantastbar, unbegreiflich. Wir benennen sie, wir teilen sie ein in Jahre, Tage, Stunden, in dem vergeblichen Versuch sie dadurch greifbarer zu machen. Sie ist unumkehrbar, unaufhaltsam, unerbittlich. Eine sanfte Gewalt.

Es ist nahezu eine Stunde vergangen seitdem ich begonnen habe zu schreiben, das fuehle ich nicht, das sagt mir die Anzeige meines Laptops. Gerade kann ich es wieder einmal nicht fassen, wie konnte die Zeit so vergehen? Ist das ueberhaupt das richtige Wort "vergehen", fliesst die Zeit nicht eher? Mir gefaellt die Metapher des Flusses. Aber hat nicht jeder Fluss einen Ursprung? Wo beginnt die Zeit und wo endet sie?

Jetzt- Das ist Mittwoch, ca. viertel nach fuenf und ich bin schon wieder wie besessen, eigentlich sollte ich mein Fitnessprogramm durchziehen, aber in mir spuere ich diese Unruhe. Seit Wochen tragen ich mich mit diesen Gedanken. Zeit- das ist Physik, Philosophie, Psychologie. Lange galt in der Physik Isaac Newtons Annahme der "absoluten Zeit", die noch heute unserem deutschem Alltagsverstaendnis zugrunde liegt: "Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfliesst an sich und vermoege ihrer Natur gleichfoermig und ohne Beziehung auf irgendeinen aeusseren Gegenstand." Gleichfoermig? Ohne Bezug auf aeussere Gegenstaende? Etwas in mir straeubt sich dagegen. Es gibt Abschnitte meines Aufenthalts hier die scheinen nicht zu enden, und doch ist es nur das was wir einen einzigen Tag nennen. Es gibt Ereignisse, ich blinzle, und mein Kalender teilt mir mit, es sei eine Woche vergangen. Wie soll das "absolut", wie soll das "gleichfoermig" sein? Nicht umsonst stattet die deutsche Sprache uns mit den wunderschoenen Worten "kurzweilig" und "langweilig" aus. Zeitempfinden ist subjektiv, Zeitmessung ist objektiv und die Zeit selbst?

Jetzt haeng' ich fest, im Kopf habe ich das Bild einer undurchdringlichen, wabernden Substanz, undurchdringlich und doch nicht zu beruehren... so komme ich nicht weiter, ich blaetter durch eine der "SPIEGEL"-Ausgaben die auf unserem Wohnzimmertisch liegen. Ich stosse auf einen Artikel, der mit einem Foto versehen ist. Gezeigt wird die Tafel eines Klassenzimmers mit dem Anschrieb: "Zeit ist/bringt Geld" Als waer die Thematik nicht schon kompliziert genug, nun kommt auch noch "Zeit" als Wirtschaftsgut hinzu. Was mir dieser Satz aber vor allem bewusst macht ist, dass Zeitverstaendnis kulturell bedingt ist. In Deutschland scheint mir das Verstaendnis der "absoluten Zeit" zu gelten, sie macht Zeit zu etwas Transzendentem. Die Zeit scheint losgeloest vom Individuum zu sein, ihm uebergeordne, parallel zu existieren als gaebe es irgendwo eine gigantische Uhr, die tickt, die Abhaengigkeit schafft. Bedeutet diese Vorstellung, dass mir Zeit zugesprochen wird. Kommt daher vielleicht die Formulierung "man solle keine Zeit verlieren"?

Oder doch eher von der Vorstellung, dass "Dasein" durch Entscheidungen beeinflusst wird, jegliche Entscheidungsspielraeume jedoch aufgrund des unweigerlichen Todes endlich sind. Der Mensch rechnet mit Zeit, weil er im Wissen um seine Endlichkeit fuer sich und andere sorgt. Gilt es deshalb "keine Zeit zu verlieren"? Und schon wieder verheddere ich mich, in diesem Wirrwarr von Zeit, Zeitempfinden und Zeitverstaendnis. Ich lasse meine Augen ueber unsere Wohnzimmerwaende schweifen, da stehen viele Sprueche von uns, fast alle haben einen zeitlichen Aspekt. Da steht "Lieber spaet als nie" und "Abwarten, Tee trinken", mein Blick bleibt haengen. Ich laechle. An unserer Wand steht "Zeit ist relativ".

Seit Einsteins Relativitaetstheorie liegt fuer viele Physiker der Ursprung der Zeit im Urknall. Zeit, Raum, Materie, Gravitationsfelder alles steht in Relation mit und zu einander. Alles ist relativ. Von Newtons "absoluter Zeit" kann folglich keine Rede sein. Ist der Urknall also der Quellort des Stroms der Zeit? Kann ich Stromschnellen schaffen? Daemme bauen? Das Flussbett erweitern damit sie traeger dahin fliesst?

Es ist der Abschnitt in der Woche, den wir Donnerstag nennen, seit wenigen Wochen ist es kuehler und regnet mehr, ich bin erkaeltet. Ich mache wieder kein Fitnessprogramm, dafuer habe ich Zeit zu schreiben. Interessante Formulierung, oder? Hatte ich die Zeit vorher etwa nicht? Habe ich sie etwa dazu gewonnen? Ich habe mich doch lediglich entschieden meine Zeit anders zu nutzen. Ich komme wieder zur Relativitaetstheorie. Da ist von einer Eigenzeit die Rede. Das gefaellt mir, die Zeit durchdringt mich, ist Teil von mir, nichts Transzendentes (obwohl, sagt man nicht Gott lebt in uns allen? Das wuerde jetzt doch zu weit weg fuehren). Wenn Zeit ein Teil meines Seins ist, selbst wenn es nur ein Produkt meines Bewusstseins ist, dann kann ich keine Zeit verlieren, denn das bedeutete einen Teil meiner Selbst zu verlieren. Ich kann Zeit verschwenden, aber nicht verlieren.

Ich habe heute mal wieder viel ueber die deutsche Sprache nachgedacht. Es gibt faszinierende Formulierungen im Hinblick auf Zeit. Dabei ist mir aufgefallen, dass viele davon stark mit unseren Kulturvorstellungen korrelieren . "Ich hatte keine Zeit", "Zeit ist Geld", "Ich nehme mir die Zeit", darin sehe ich das Verstaendnis der "absoluten Zeit", das Verstaendnis der Zeit als einen oekonomischen Wert, der wiederum Abhaengigkeit schafft. In Ghana (so scheint es zumindest mir) wird Zeit anders aufgefasst und folglich auch anders mit ihr umgegangen. Ich sitze in einem Sessel unseres Wohnzimmers, erinnere mich an unzaehlige Trotro-Fahrten bei denen ich auf weitere Fahrgaeste wartete. Jetzt, in diesem Moment, der bereits beim Schreiben der Worte von Gegenwart zu Vergangenheit wurde, meine ich zu verstehen, warum Ghanaer kein Problem hatten so viel Zeit mit Warten zu verbringen. In ihnen scheint die Idee der Eigenzeit tief verankert zu sein, sie sind nicht abhaengig von einer "absoluten" uebergeordneten Zeit. Zeit als etwas Eigenstaendiges ist fuer sie wahrscheinlich ein befremdlicher Gedanke. Sie haben keine Zeit beim Warten verloren, denn sie ist ja Teil von ihnen.

Auf dem Weg nach Ankukrom aus dem Fenster des Trotros sehe ich die Mitarbeiter unseres Wohnkomplexes gemeinsam im Wachhaus des Eingangstor sitzen, sich unterhalten, palavern. Drei einhalb Stunden spaeter bei Rueckfahrt sehe ich sie noch immer (oder vielleicht schon wieder) dort sitzen. Ich frage mich, wie haben sie die Stunden, die Zeit genutzt? "Zeit nutzen" auch so eine schoene Formulierung. Doch damit halte ich mich nicht auf. Meine Gedanken springen weiter. Wie sollte man seine Zeit nutzen? Auf diese scheinbar komplexe Frage meine ich eine erstaunlich simple Antwort zu finden: Jeder sollte seine Zeit so nutzen, dass er gluecklich ist. Wenn das bedeutet, taeglich fuer Stunden mit anderen zusammen zu sitzen und zu palavern, gut. So lange es mir frei steht meine Zeit nach meinem Willen zu nutzen, denn Palavern wuerde mich nicht gluecklich machen. So wie ich den Gedanken vollende, kommt mir das Wort Prioritaet in den Sinn- "Zeit" ist untrennbar mit dem Begriff Prioritaeten verbunden, diese wiederum sind kulturell bedingt. In einer eher kollektivistischen, phlegmatischen Gesellschaft hat das Gemeinsame Vorrang, zusammen sitzen, gemeinsam palavern, in einer eher individualistischen, leistungsorientierten Gesellschaft herrscht die Vorstellung Zeit effektiv, effizient, produktiv zu nutzen. Bevor ich die Maenner vom Tor aus den Augen verliere, schleicht ein weiterer Gedanke in mein Bewusstsein. Was weiss ich denn, worueber die Maenner diskutieren, es koennte vom letzten Fussballspieltag ueber die politische Agenda bis zu einem philosophischen Diskurs ueber die Zeit selbst einfach alles sein. Haetten sie ihre Zeit dann etwa nicht effektiv genutzt? Ich steige aus dem Trotro, mir wirbeln Ideen, Gedankenfetzen durch den Kopf. Zurueck im Haus faellt mir Spruch an unserer Wand in die Augen, da steht "Carpe diem".

Jetzt- Das ist Freitagabend. Kurz nach halb elf. Erneut kreisen meine Gedanken um Zeit, aber auch um Worte, um Zeitworte. "Zeit totschlagen" und "Zeitvertreib", zwei Formulierungen derer ich vor zwoelf Monaten kaum gedacht, ganz zu schweigen grosse Beachtung habe zukommen lassen. Wie sich doch die Zeiten aendern. (Ihr seht ich habe grossen Gefallen an Zeitworten gefunden) Aber zurueck zum Vertreiben und Totschlagen. Nach meinen vorangegangen Ueberlegungen sollte ich eigentlich zum Schluss kommen, dass bedingt durch die allgemeine Endlichkeit, ich jeden Augenblick, jeden Moment, jeden Zeitabschnitt, mag es Sekunde oder Stunde sein, hochschaetzen und auskosten sollte. Da erscheint mir der martialische Ausdruck des "Zeit-Totschlages" doch gerade zu ketzerisch, ebenso der des "Zeitvertreibs", auch wenn dieser immerhin nicht martialisch ist. Gleichzeitig (ich hab' wirklich Freude daran) entsinne ich mich aber der unzaehligen Situationen, in denen ich hier wartend wohl genau das getan habe, "Zeit totgeschlagen". Wie sollte ich diese Momente, denn schaetzen, geniessen, auskosten? In mir regt sich was... da war doch was. Ich steh' vor einer gedanklichen Wand. Ich schau an die tatsaechliche, sichtbare Wand. "Zeit ist relativ". Das war's. Ich brauche diese Momente nicht zu schaetzen, auszukosten, zu geniessen. Ich habe die Kontrolle, ich kann sie verfliegen lassen, ich kann Stromschnellen schaffen. Buendel ich meine Gedanken, meine Aufmerksamkeit, meine Taetigkeit auf etwas, das mir Freude bereitet, das schoen ist, das aufregend ist, so wird aus einem nicht endenwollenden Warten eine kurzweilige Angelegenheit. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass es nicht moeglich ist das Flussbett zu erweitern ohne Langeweile zu schaffen. Schoene Momente sind zwangsweise kurzweilig und lassen sich nicht in die Laenge ziehen.

Jetzt- Das ist Montag. Soeben habe ich in Camus "Die Pest" folgende Worte gelesen, die wunderbar zu meinen Ueberlegungen wenige Tage zuvor passen: "Frage: was tun, um seine Zeit nicht zu verlieren? Antwort: sie in ihrer ganzen Laenge auskosten. Mittel: tagelang auf einem unbequemen Stuhl im Wartezimmer eines Zahnarztes sitzen; den Sonntagnachmittag auf seinem Balkon verbringen; Vortraege anhoeren in einer Sprache, die man nicht versteht; in der Eisenbahn die laengsten und umstaendlichsten Strecken fahren, selbstverstaendlich stehend; am Vorverkaufsschalter eines Theatersschlange stehen und keine Karte loesen usw. usw." Mag die Zeit auch nicht verloren sein, derer man eindruecklich bewusst ist, die man traege dahin troepfeln spuert, weil sie sich nicht in Aufregendem verfluechtigt, sich nicht im Schoenen verliert, so ist sie doch verschwendet. Was Camus' Tarrou "nicht verlieren" sogar "auskosten" der Zeit nennt, empfinde ich als Zeitverschwendung. Auf Tarrous Weise mag man das Flussbett erweitern, aber eine solche Dehnung der Zeit widerspricht meinem inneren Drang, ich ziehe das Kurzweilige, das Aufregende, das Schoene vor. Die Stromschnellen.

Die Kopflehne meines Sessels reibt an der Wand. Ich stehe auf, um den Sessel zurechtzuruecken. Der Spruch an dieser Wandstelle ist ein wenig verwischt, aber fuer mich dennoch seit kurzem klarer als zuvor: "Der Tag ist das, was man daraus macht".

Heute: Das ist 30 Tage vor Heimkehr. 30 Tage, die eine kleine Ewigkeit oder ein Blinzeln in einer Stromschnelle sein koennen.

Letztlich ist es relativ.

Dienstag, 15. Juni 2010

"Ghana vs. Afrika" oder "Die Panafrikanische Idee"

Ich sitze im Trotro, wie lange wir wohl noch auf weitere Fahrgaeste warten muessen, in meinen Haenden liegt mein kleines Buechlein, unbeholfen versuche ich meine Gedanken ueber Zeit und Zeitempfinden festzuhalten, aber es will mir heute einfach nicht gelingen. Ein Stimme dringt zu mir durch, ein Mann steht mitten vor der offenen Schiebetuer des Trotros und ruft: "Obroni in Ghana! Obroni in Westafrica!" Aus dem Gewirr von Verkaeufern tritt ein zweiter hinzu und schreit: "Obroni in Africa!" Auf mein Laecheln folgt die unvermeidliche Frage, wie es mir hier gefalle in Ghana, in Afrika. Ich loese mich von meinen Zeitgedanken und erwidere, Ghana sei sehr schoen, nur ueber Afrika als Ganzes koenne ich nichts sagen. Mit unglaeubigen Erstaunen, ruft mein Gespraechspartner einen Satz, den ich nur zu gut aus Begegnungen hier in Ghana kenne,: "This is Africa!" Drei Worte, die mich einmal mehr in tiefes Gruebeln verfallen lassen.

Ich denke an mein Vorbereitungsseminar, Dank dessen ich in nahezu allen Blogeintraegen hyper-sensibilisiert und politisch korrekt gewesen bin (oder es zumindest versucht habe). Ich denke daran, dass ich ein bestimmtes Wort nur zwei Mal in meinen bisherigen 38 Eintraegen verwendete: "Afrika". Erstaunlich, oder? Schliesslich bin ich doch in Ghana, einem afrikanischem Land. Warum also habe ich so selten "Afrika" geschrieben, ganz einfach: Beim Vorbereitungsseminar wurden wir Freiwilligen alle mehrfach, fast schon bis zum Erbrechen, sensibilisiert und ermahnt, dass wir nicht verallgemeinern sollen (niemals!), dass wir betonen sollen, dass wir Erfahrungen in Ghana sammeln und deshalb die Nutzung des Begriffs "Afrika" vermeiden sollen, weil dadurch das in westlichen Medien so oft bemuehte Bild eines kohaerenten Afrikas verfestigt wird und man damit nur zu Stereotypisierung beitraegt, und eines der Ziel unseres Freiwilligenjahres ist es doch Vorurteile durch persoenliche Erfahrungen abzubauen. Ganz dem hehren Ziel des Freiwilligendienstes ergeben, vermied ich also die Nutzung des Wortes "Afrika" und betonte stets Ghana.

Nun sitze ich im Trotro, mir erklingen wieder die Ermahnungen der Tutorin:
"Afrika", das Wort allein ruft durch die Auswahl und Berichterstattung der deutschen und westlichen Medien negative Assoziationen hervor. Das ist ein Relikt der Kolonialzeit, in der sich nicht die Muehe gemacht wurde die Laender zu nennen, denn es war ja nur "Afrika". Macht immer deutlich, dass Ihr in Ghana seid, dass daraus keine Schluesse auf andere afrikanische Staaten gezogen werden koennen.

Noch waehrend die Worte in mir verklingen, regen sich gegensaetzliche Erinnerungen: Buchpassagen ueber die Erfahrungen einer Somalierin, die alltaegliche Szenen beschreibt, die mir seltsam vertraut erscheinen, bloss bin ich doch in Ghana und nicht Somalia. Buchpassagen eines Anthropologen aus Kamerun, der scheinbar auch Erlebnisse mit mir geteilt hat. Kapuscinski, der in "Afrikanisches Fieber" so viele kleine wohl bekannte Begebenheiten schildert.
Und vor allem Ghanaer, die jede afrikanische Fussballmannschaft bejubeln, ausser die nigerianische, aber dazu spaeter mehr. Ghanaer, die sich kaum kennen, aber mit 'Bruder' oder 'Schwester' ansprechen, und immer wieder die an mich gestellte Frage, wie es mir in Afrika gefalle.

Es reift in mir also der Gedanke, vielleicht gibt es da etwas, das Ghanaer mit anderen afrikanischen Laendern verbindet, vielleicht gibt es da etwas das den ganzen Kontinent eint. Vielleicht ist das die Panafrikanische Idee? Aber es reift auch die Frage, wie stark ist dieser Panafrikanismus?

Es gibt die panafrikanischen Farben (rot, gruen, gelb), die in den verschiedenen afrikanischen Nationalflaggen dominieren und von deren Sportlern stets bei jeder Gelegenheit mit grossem Patriotismus praesentiert werden. Die vor wenigen Tagen begonnene Fussballweltmeisterschaft in Suedafrika wurde mit Spannung erwartet, denn es ist eine gefuehlte Heim-WM fuer alle Afrikaner. In Fernsehberichten sehe ich afrikanische Fans, die es als selbstverstaendlich ansehen jede afrikanische Mannschaft zu unterstuetzen, es sei doch schliesslich eine afrikanische WM. Es ist dieser Einheitsgeist, der Ghanaer jubeln laesst, wenn Suedafrika die erste WM auf dem afrikanischen Kontinent gegen Mexiko eroeffnet, wenn die Elfenbeinkueste gegen Portugal antritt und wenn Kameruns Spieler zum ersten Mal den Ball beruehren. Zweifellos wird die eigenen Nation am staerksten unterstuetzt, aber sollte diese ausscheiden, und eine afrikanische Mannschaft vielversprechend aufspielen, so wird sie mit der Unterstuetzung des Kontinents rechnen koennen.

Doch auch neben den umjubelten Fussballspielern, den Essien, Mikels, Drogbas gibt es panafrikanische Idole abseits des Fussballplatzes. Alte wie Robert Mugabe (der einst ein Hoffnungstraeger des gerade in die Unabhaengigkeit entlassenen Kontinents war) und Kwame Nkrumah, sowie scheinbar zeitlose wie Nelson Mandela. Verdiente Maenner des Kampfes gegen die Unterdrueckung. Ein Kampf der den Kontinent, die Nationen, die Voelker, so scheint mir, hat naeher zusammenruecken lassen. Ist der Panafrikanische Gedanke also auch so stark, weil es den gemeinsamen Feind gab?

Dass die Panafrikanische Idee lebendig, stark und nahezu allgegenwaertig ist habe ich bei unserer Reise durch Togo und Benin gespuert. Die Menschen sprechen oft und viel ueber Afrika, ueber die Zukunft und die Rolle Afrikas. Dabei wird ein bewundernswertes Gefuehl der Gemeinsamkeit, Geschlossenheit und Einheit vermittelt, von dem wir in Europa, das wurde in der Diskussion um die Griechenland-Rettung ueberdeutlich, noch weit entfernt sind.

Auch die Afrikanische Union ist ein Beispiel der Staerke des Panafrikanischen Gedankens. Diese wurde bereits 1961 durch die neuen Staatsoberhaeupter, der damaligen so frisch von der Unabhaengigkeitswelle erfassten afrikanischen Laender, gegruendet. Vier Jahre zuvor hatte es gerade einmal einen Zusammenschluss der Benelux-Staaten, Frankreichs, Italiens und Deutschland zur Europaeischen Wirtschaft Gemeinschaft gegeben, der erste Schritt zur Europaeischen Union, die erst 1993 ganze 32 Jahre nach der Afrikanischen Union erschaffen wurde.

Bei alle dem darf jedoch nicht vergessen werden, dass auch der Panafrikanismus seine Grenzen hat und es sich als sehr fragiles Gebilde erweisen kann. Nigeria und Nigerianer bspw. sind fuer viele Ghanaer ein Aergernis. Nigeria war einst Hoffnungstraeger der afrikanischen Westkueste gewesen, der bevoelkerungs- und erdoelreichste Staat Westafrikas, zog Wirtschaftsmigranten aus der gesamten Region an. Doch dann versank das Land in Buergerkriegen und Oel-Skandalen. Aus der Wirtschaftshoffnung wurde ein Problemfall und seit einigen Jahren findet eine verstaerkte Emigration nigerianischer Buerger statt. Aufgrund der positiven Entwicklungen der letzten Jahre ist Ghana als aufstrebender Wirtschaftstraeger ein wahrer Migrationsmagnet. Viele Nigerianer insbesondere in Accra sehen sich gezwungen im informellen Sektor zu arbeiten oder gaenzlich illegal ihren Unterhalt zu bestreiten. Dadurch werden sie den Ghanaern missliebig, weshalb meine Kollegen und ich bereits mehrmals mit Aussagen wie, dass es bevor die Nigerianer kamen, keine Kriminalitaet in Ghana gegeben habe, konfrontiert wurden. Selbst unser Gastvater, den wir als sehr besonnen und pragmatisch kennen gelernt haben, freute sich ausgiebig, als die Schweiz die U-17 WM im Finale gegen Nigeria gewann, und prophezeite uns bei der Live-Uebertragung, dass es zu Ausschreitungen durch die nigerianischen Fans kommen wuerde. Was nicht der Fall war. Es entsteht somit der dringliche Eindruck, dass die Panafrikanische Idee zumindest in der Sicht vieler Westafrikaner Nigeria ausschliesst.

Gibt's vielleicht noch weitere Ausschluesse?

Ja. Bereits am zweiten Tag in Ghana lernte ich etwas Entscheidendes ueber den Panafrikanischen Gedanken. Mitarbeiter unserer NGO fragten uns, ob wir denn schon einmal in Afrika gewesen seien, als ich bejahend antwortete, ich sei in Aegypten, Tunesien und Marokko gewesen, stellten sie postwendend klar, dass ich noch nicht in Afrika gewesen sei. Es scheint als sei die noerdliche geographische Grenze der Panafrikanischen Idee nicht das Mittelmeer, sondern die Sahara. Folglich ist der Subsahara-Teil des Kontintens das "wahre Afrika". Eine grosse Rolle bei dieser Abgrenzung spielt die Hautfarbe, die wohl am staerksten zur Identitaetsstiftung beitraegt. "Obroni" der weisse Mann und "Obrofou" der Englaender: Das sind nicht nur wir oder alle Westler. Das sind, wie wir bei Gespraechen mit den Lehrern in Ankukrom heraushoerten, auch die Nordafrikaner, Aegypter und Algerier! Und selbst Suedafrika, das derzeit so oft als Regenbogennation in den deutschen Medien Erwaehnung findet, nimmt gerade dadurch im Panafrikanischen Gedanken eine Sonderrolle ein.


Letztlich komme ich zu dem Schluss, dass es Eigenheiten gibt die mir wahrscheinlich in vielen afrikanischen Laendern begegnen koennen, aber da ich nicht weiss welche der taeglichen Erlebnisse mir auch bspw. in Ouagouadougou (Hauptstadt Burkina-Fasos) passieren koennten, bleibe ich dabei es als ghanaische Gepflogenheit zu betrachten.

Was den Panafrikanischen Gedanken anbelangt, so laesst sich aus meiner Sicht nach fast elf Monaten in Ghana sagen, dass die Panafrikanische Idee, entstanden aus dem Widerstand gegen die Kolonialisten, sich zu einem eigenstaendigen Selbstwert entwickelt hat. Panafrikanismus scheint fuer viele eine starke, lebendige, hoffnungsvolle Vision zu sein. Doch reicht eine Vision?