Sonntag, 8. August 2010

Ein Laecheln

Wie ein Blinzeln ist die erste Woche in der Heimat verflogen. Deutsches Bier. Ein Gespraech. Steak. Eine Umarmung. Kuchen. Ein Laecheln. Die Eindruecke prasseln auf mich ein, wie Tage zuvor der tropische Regen. Ich versuche alles so bewusst wie moeglich aufzunehmen, aufzusaugen, nichts zu verpassen. Die erste Nacht, alleine im Haus. Ich kann nicht einschlafen. Mein Kopf ueberdimensional gross, im naechsten Moment dreht sich mein Bett, bevor mein Kopf auf Miniaturgroesse schrumpft und wieder waechst, eine Szene jagt die andere, Gedanken schiessen durch den Kopf, Gefuehle springen von Synapse zu Synapse, bis meine Botenstoffe erschoepft sind, die Hetzjagd der Eindruecke vorbei ist und ich in den Schlaf sinke.

Zwei Stunden Zeitverschiebung, mehr als 5000 Flugkilometer, sechs einhalb Flugstunden, rein numerisch trennt Frankfurt nicht viel von Accra. Aber was fuer mich Accra von Frankfurt trennt laesst sich nicht messen. Wie soll man denn auch Heimatsgefuehle messen?

Heimat. Ueber dieses Wort hatte ich vor diesem Jahr nur vereinzelt nachgedacht. Was mich im Rueckblick auf mein Jahr und meine Erfahrungen doch sehr erstaunt. Meine Heimat, das war fuer mich selbstverstaendlich Dossenheim und Heidelberg. Aber warum, darueber hatte ich noch nie wirklich nachgedacht. Es mag mit Heidelbergs Schoenheit zusammenhaengen, denn die ist beeindruckend. Jetzt ist es als saehe ich Heidelberg zum aller ersten Mal. Das Schloss, die Hauptstrasse, die alte Bruecke, im Hintergrund das Gruen des Koenigstuhls. Heimat. Aber es ist nicht nur die Schoenheit Heidelbergs.
Nach vier Tagen gehe ich das erste Mal alleine Mountainbiken. Es ist frueher Abend, zuvor hat es geregnet. Das Gruen fasziniert mich, mal hell und unbekuemmert, mal dunkel und erhaben, zieht es an mir vorbei. Der Wald dampft, Sonnenlicht faellt durch das Blaetterdach aus Laub und Nadeln, vereinzelt fallen Wassertropfen auf die regennassen Blaetter, der Waldweg windet sich um den Berg hoch zu einer Gabelung, die zugleich ein Aussichtspunkt ist, von dort blicke ich ueber die Rheinebene. Ein Laecheln auf den Lippen, denn hier bin ich daheim.
Stadt und Natur. Doch Heimat ist mehr als das. Der erste Tag daheim verdeutlicht was Heimat ist: Familie und Freunde. Gegen nichts zu tauschen, unverkaeuflich und unantastbar. Karlheinz Deschner hat es trefflich ausgedrueckt als er sagte: "Heimat ist nicht dort, wo man wohnt, sondern wo man liebt und geliebt wird."

Sieben Tage rauschen an mir vorbei, reissen mich mit und lassen mir kaum einen Moment um eben den Moment zu geniessen. Sieben Tage bin ich wie aufgedreht und aufgepumpt, spaet ins Bett, frueh raus, lesen, Wohnung aufraeumen, Sport machen, Leute treffen. Als haette ich meine ueber das Jahr nur zu Teilen genutzte Energie unbegrenzt zur Verfuegung. Alles aufnehmen, aufsaugen, bewusst wahrnehmen und geniessen. In diesen sieben Tagen bin ich unersaettlich, geradezu gierig, alles koennte noch mehr sein, schneller, intensiver, aufregender, dabei ist es all das schon. Sieben Tage Leben in vollsten Zuegen, bis ich zum Nachbereitungsseminar aufbreche.

Das Rauschen der ersten Woche ist vergangen. Die zweite Woche ist gepraegt von Kuschelpaedagogik und gefuehlsbetonten Gruppensitzungen auf Matratzen. Jeder soll berichten und im Umkehrschluss soll jeder zu hoeren. Ich will weder das eine noch das andere. Auch wenn meine Skepsis sich nicht vollstaendig legt, letzten Endes ist das Seminar sinnvoll und gut. Ich lerne Mattes und Rafael kennen, dafuer bin ich dankbar. Allein dafuer hat sich das Nachbereitungsseminar gelohnt. An Zufall glaube ich nicht und Schicksal ist ein schweres, wuchtiges Wort, aber an das Gute und den Sinn daran mag ich gerne glauben.

Es ist endgueltig zu Ende gegangen. Ich bin vom Nachbereitungsseminar zurueckgekehrt. Ich bin kein Freiwilliger mehr, ich bin frei. Darin steckt Genugtuung, Zufriedenheit. Nicht mehr die Ekstase der Glueckseligkeit, die ich vor wenigen Tagen beim ersten Mal Mountainbiken spuerte. Keine Adrenalinkicks, sondern eine innere Ruhe. Ein stilles Laecheln. Das spuere ich jetzt.
Vom Nachbereitungsseminar kehre ich ruhiger zurueck, auch ein wenig erschopeft. Jetzt empfinde ich das Leben in Deutschland ein wenig anstrengend, energieraubend. Jetzt wird es mir wieder dringlich bewusst, ein Jahr. Die Zeit als Freiwilliger ist zu Ende. Eine lange Reise liegt hinter mir, von der Online-Bewerbung zum Nachbereitungsseminar und dazwischen unzaehlige Momente, die mich sehr gepraegt haben und noch immer beschaeftigen.

Was jetzt kommen wird? Studium. Politisches Engagement in irgendeiner Form. Viel Schreiben.

Bevor ich mit diesem Blogeintrag, meinem letzten im Zusammenhang mit meinem Freiwilligendienst, mein Freiwilligenjahr persoenlich beende, moechte ich allen danken, die waehrend des Jahres jeden Blogeintrag gelesen haben, die fast jeden Blogeintrag gelesen haben, die sporadisch mal einen Blogeintrag gelesen haben. Ich moechte allen danken, die an mich gedacht und mich unterstuetzt haben.

Schliessen moechte ich mit einem Zitat von Antoine De Saint-Exupery:
"Ein Laecheln ist oft das Wesentliche. Man wird mit einem Laecheln belohnt oder belebt."

Dienstag, 20. Juli 2010

Zum letzten Mal ... Oder zum ersten?

Was ist wertvoll? Und wodurch wird es wertvoll?

Wenn man sagt eine Aktie habe an Wert gewonnen, dann bedeutet das, dass der Aktionaer bei Verkauf mehr Geld erhaelt als er bei Kauf zu zahlen hatte. Definiert also der Geldbetrag den Wert? Je mehr Geld, desto wertvoller? Wodurch wird aber ein Moment wertvoll? Wodurch wird eine Erfahrung wertvoll? Bleiben wir erst einmal beim Geld.

Frueher gab es mal den Goldstandard (bis der Vietnamkrieg auch damit Schluss machte), d.h. man konnte sein Papiergeld jederzeit in eine entsprechende Menge Gold umtauschen, der Wert des Geldes wurde also ueber einen realen Gegenstand definiert. Warum aber gilt Gold als wertvoll? Aufgrund der naturbedingten Knappheit des Edelmetalls? Also aufgrund seiner Endlichkeit? Sollte dann nicht mit jeder gefoerderten Tonne Gold der Wert abnehmen? Warum steigt der Goldpreis seit Monaten? Weil der Wert einer Sache sich eben nicht nur ueber deren Seltenheit definiert. Gold ist nur das Vertrauen wert, das wir darin haben. Kein Vertrauen kein Wert. Gleiches gilt fuer Geld. Aber genug vom Geld.

Also noch mal die Frage, wodurch wird ein Moment wertvoll? Wir entscheiden was wertvoll ist, indem wir einer Sache Wert beimessen. Seltenheit, Einzigartigkeit spielen dabei eine Rolle, aber letztlich ist unser eigenes Urteil ausschlaggebend. Ein einzigartiger Augenblicke koennte unbemerkt vergehen, vollkommen wertlos sein, wenn man ihn nicht bewusst erlebt. Deshalb kann alles einen Wert besitzen und alles wertvoll sein. Es haengt vom Einzelnen ab, was er oder sie (der politischen Korrektheit halber) als wertvoll betrachtet. Geld, eine Erfahrung, ein Auto, eine Begegnung, ein Haus, ein Gespraech: Der Wert wie auch die Zeit ist relativ.

In "Es ist an der Zeit..." sprach ich von Endlichkeit und kam zur Schlussfolgerung, dass man eigentlich jeden Moment aufgrund der Endlichkeit des Lebens hochschaetzen und auskosten sollte. Mein Aufenthalt hier ist dem Ende nahe. Jede Handlung koennte ich zum letzten Mal in Ghana vollfuehren. Zum letzten Mal. Bei dem Gedanken muss ich laecheln, ich freue mich auf daheim. Seit zwei Wochen denke ich mir bei jeder Taetigkeit, es koennte das letzte Mal sein, selbst wenn ich mit an Gewissheit grenzender Sicherheit weiss, dass ich es am naechsten Tag wieder machen werde. Warum ich das mache? Man koennte Kleists "Wissen um die Gebrechlichkeit der Welt" oder Machiavellis "Fortuna" vermuten aber das ist es nicht. Warum also mach' ich das? Weil ich mir damit die so nahe Endlichkeit meines Aufenthalts gewahr mache. Weil es mich befreit. Weil ich mich auf daheim freue. Weil die Handlung dadurch wertvoll wird. Weil der Moment, die Handlung, die Konstellation der Umstaende einzigartig sind, und es deshalb tatsaechlich das letzte Mal ist. Oder das erste Mal, ganz wie man will. So bewusst zu leben, erfordert viel Aufmerksamkeit und zu behaupten ich koennte diese Bewusstheit in jeden Moment tragen, waere glatt gelogen, aber wann immer es gelingt bereitet es Freude. Den Satz: 'Man solle jeden Tag so leben als sei es der Letzte', sehe ich dennoch skeptisch, das klingt mir zu sehr nach esoterischer Glueckskeks-Botschaft, und wer wuerde denn da noch arbeiten gehen?

Was war das erste letzte Mal in Ghana? Das war als zum letzten Mal meine Haare auf zwei, drei Millimeter gekuerzt wurden. Zum letzten Mal die blanke Rasierklinge ueber meinen Kopf streichen spueren. Zum letzten Mal mich fragen, ob das Haar oder Kopfhaut war. Zum letzten Mal in den Spiegel schauen, sich denken, so kurz sollten meine Haare echt nicht sein.

Zum ersten Mal die Postbox oeffnen. Zum letzten Mal eine Postkarte aus Deutschland erhalten. Zum ersten Mal sich freuen, dass jemand an mich gedacht hat. Zum letzten Mal sich freuen, dass Distanz und Zeit ueberbrueckbar, relativ sind. Zum ersten Mal sich freuen solche Freunde zu haben. Zum letzten Mal sich freuen heimzukehren.

Zum letzten Mal einen Blogeintrag schreiben. Zum ersten Mal mir wirklich Gedanken machen, worueber ich eigentlich schreibe. Zum letzten Mal sich fragen, wer wird das ueberhaupt lesen? Zum ersten Mal einfach drauflos schreiben. Zum letzten Mal unzufrieden einen Teil loeschen. Zum ersten Mal gedankenverloren die Wand anstarren. Zum letzten Mal "C'est la vie, mon ami" an der Wand lesen und laecheln. Zum ersten Mal die Musik aendern. Zum letzten Mal Beethovens 'Waldstein Sonate' in C-Dur hoeren. Zum ersten Mal mich um politische Korrektheit bemuehen. Zum letzten Mal ein wenig Ironie verstecken. Zum ersten Mal Euch meine Sicht der Wirklichkeit als Realitaet praesentieren. Zum letzten Mal die Wirklichkeit des Blogs erschaffen. Zum ersten Mal in mein kleines Buechlein blicken. Zum letzten Mal in mich blicken. Zum ersten Mal Einblick gewaehren. Zum letzten Mal einen Spruch an die Wand schreiben: "Es ist vorbei bei bei Julimond". Zum ersten Mal Spass am Schreiben haben. Zum letzten Mal sich selbst inszenieren.

Zum ersten Mal Handwaesche. Zum letzten Mal den Kopfkissenbezug waschen. Zum ersten Mal kochendes Wasser ueber meine Finger verschuetten. Zum letzten Mal ueber meinen Kopfhoerer im Ohr Campino mit "Alles wird voruebergehen" hoeren. Zum ersten Mal mich auf eine Waschmaschine freuen. Zum letzten Mal die Brandblasen betrachten. Zum ersten Mal denken, in Deutschland waer' das nicht passiert. Zum letzten Mal in Gedanken alle Verletzungen des Jahres durchgehen. Zum ersten Mal zu viel Waschpulver ins Wasser schuetten. Zum letzten Mal 15 Minuten einwirken lassen. Zum ersten Mal Boxershorts buegeln. Zum letzten Mal durch einen Stromausfall daran gehindert werden.

Zum letzten Mal im Internet-Cafe sitzen. Zum ersten Mal den USB-Stick anstecken. Zum letzten Mal sich aergern, dass die Verbindung so schlecht ist. Zum ersten Mal einen Minesweeper Rekord aufstellen. Zum letzten Mal Spider-Solitaire gewinnen. Zum ersten Mal sich aergern, dass der Strom ausfaellt. Zum letzten Mal sich freuen, dass der Strom wieder da ist. Zum ersten Mal sich freuen, dass das Login erfolgreich war. Zum letzten Mal sich aergern, dass 13 von 15 Mails sofort geloescht werden koennen. Zum ersten Mal sich aergern, dass der Strom schon wieder ausfaellt. Zum letzten Mal denken, in fuenf Minuten geh' ich. Zum ersten Mal denken, ich muss soo pinkeln. Zum letzten Mal sich aergern, dass mehr Nachrichten auf Facebook geschickt werden als Mails. Zum ersten Mal sich aergern solche Freunde zu haben. Zum letzten Mal einen Blogeintrag veroeffentlichen. Zum ersten Mal sich aergern, dass so wenige Kommentare geschrieben werden. Zum letzten Mal sich freuen einen Kommentar zu lesen. Zum ersten Mal mich fragen, habe ich Ghana je "nur" als "Auszeit" bezeichnet? Zum letzten Mal denken, jetzt bitte kein Stromausfall. Zum ersten Mal denken, dass war wirklich mein letztes Mal im Internetcafe.

Zum ersten Mal Ameisen toeten. Zum letzten Mal denken, habt ihr verdient, wenn ihr auf meinen Teller krabbeln wollt. Zum ersten Mal denken, hoffentlich ist heute Nacht nicht wieder eine Ameisenstrasse in meinem Bett. Zum letzten Mal sich aufs heimische Bett freuen. Zum ersten Mal denken, jaaa Reis und Fisch zum Abendessen. Zum letzten Mal denken, jetzt ein Schnitzel!

Zum letzten Mal am Strand sitzen. Zum ersten Mal denken: 'Grauer Himmel, Nieselregen, Wind, irgendwie wie an der Nordsee, also bis auf die Palmen' Zum letzten Mal ueberlegen wie war noch mal der Text von Fantastische Viers "Tag am Meer". Zum ersten Mal denken, heut' ist mir zu kalt zum Schwimmen.

Zum ersten Mal nachts aufwachen. Zum letzten Mal vor Aufregung nicht mehr einschlafen koennen. Zum ersten Mal sich denken, bald bin ich daheim. Zum letzten Mal ueberlegen, was mach' ich am ersten Tag daheim. Zum ersten Mal sich denken, was esse ich als erstes. Zum letzten Mal "Was wird mich erwarten" von den Soehne Mannheims im Kopf haben. Zum ersten Mal ein Gluehwuermchen an der Zimmerdecke beobachten. Zum letzten Mal von deutschen Frauen traeumen. Zum ersten Mal von Ziegen geweckt werden. Zum letzten Mal von Schafen geweckt werden. Zum ersten Mal von Huehnern geweckt werden.

Zum letzten Mal die Postbox oeffnen. Zum ersten Mal eine Postkarte aus den USA erhalten. Zum letzten Mal sich freuen, dass jemand an mich gedacht hat. Zum ersten Mal sich freuen, dass Distanz und Zeit ueberbrueckbar, relativ sind. Zum letzten Mal sich freuen solche Freunde zu haben. Zum ersten Mal sich freuen heimzukehren.


Zum letzten Mal klingen die Toten Hosen in meinen Ohren:

"Ein Tag wie jeder andere, doch fuer mich ist er nicht gleich.
Ich fuehl' mich heute seltsam gut, denn ich weiss es ist so weit.
Ein Leben das zu Ende ist und eins das neu beginnt.
Durch die Tuer nach draussen gehn, es gibt kein zurueck.
Ich werd mich nicht mehr umdrehn, lass' alles hinter mir.
All' die ganzen guten Zeiten, es war schoen und danke sehr.

Hab' die selbe Sosse viel zu lang mit einem Loeffel rumgeruehrt.
Hoechste Zeit jetzt endlich mal was andres zu probieren.
ich werd mich nicht mehr umdrehen, lass alles hinter mir.
All' den Hass und all die Scheisse, fickt Euch selbst und danke sehr.

Sagt den paar Menschen, die hier meine Freunde waren,
wir sehn uns in der Hoelle drum hab ich nicht Leb' wohl gesagt.
Keine Ahnung wo es hingeht, es ist im Grunde auch egal,
am Ende kommen wir alle bei der selben Stelle an.
Dann zahl' ich meine Schulden, doch jetzt lass' ich sie hier,
denn ich werde nichts mitnehmen auf dem Weg durch diese Tuer.
Kein Grund jetzt gross zu weinen, ich hab keine Sorgen mehr,
auch wenn ich nicht in die Kirche geh', ich weiss Gott wohnt auch in mir."

Samstag, 10. Juli 2010

Ein Regentag

So wirklich beginnt dieser Nachmittag beim Mittagsessen. Ich sitze an meinem ueblichen Platz und geniesse fuer den Moment, dass es etwas anderes als Reis gibt. Da sagt Enrico, er geht schon einmal vor. Das war so abgesprochen, dieses Mal soll einer von uns frueh genug sein.

Eine halbe Stunde spaeter treffen Mira, Bugs und ich auch in Abowinum ein. Dunkle Wolken am Himmel. Seit drei Wochen das erste Mal, dass wir dort auch eine offene Schule mit Schuelern vorfinden. Ich nehme neben Enrico platz, der mir berichtet, die Direktorin habe in vorwurfsvollem Ton gefragt warum wir in den letzten Wochen nicht mehr dort seien. Ich lache. Sie ist doch diejenige, die bei Regen die Schule schliesst, nicht wir.

Zwanzig vor zwei. Wir beginnen den Kids Club. Vor zehn Minuten haben die Lehrer den Unterricht beendet. Eigentlich geht der offiziell bis zwei, aber wen kuemmert das schon? Ich schaue mich im Klassenzimmer um. Sind das nicht mehr Schueler als es eigentlich sein sollten? Ein Blick an die Tafel klaert mich auf. Alle muessen erst noch ihre Hausaufgabenstellung abschreiben. Bei unserem Kommen bis wenige Minuten zuvor haben sie Fussball gespielt. Neben mir eine schuechterne Maedchenstimme: "Sir, the rain is coming."

Der Regen bricht los. Bugs sitzt drei Meter von mir entfernt, er ruft mir etwas zu. Ich verstehe nichts. Das Trommelfeuer auf dem Wellblech ueber unseren Koepfen ist ohrenbetaeubend. "Normaler" Unterricht ist unter solchen Bedingungen wohl wirklich nicht durchzufuehren. Aber in solchen Faellen bieten sich doch Stillarbeiten an.

Ich setze mich zu Eric. Der soll einen aus Deutschland erhaltenen Brief beantworten. Er schaut auf den empfangenen Brief, schaut auf das leere Blatt fuer seine Antwort. Er zoegert. Ich frage, ob er den Brief gelesen habe. Keine Antwort. Kann er die Schrift lesen? Sieht leserlich aus. Er beginnt zu schreiben: "My name..". Ich unterbreche ihn, erklaere der erhaltene Brief sei persoenlich an ihn addressiert gewesen, er brauche nicht "My name is..." schreiben. Ich trete ans Fenster - Wo ist der Sinn einer Brieffreundschaft, wenn die Kinder nicht lesen, nicht schreiben koennen, wenn sie keine Worte haben um sich auszudruecken? - Ich versuch' die negativen Gedanken abzuschuetteln, dreh' mich weg vom Fenster, zurueck zur Klasse. Setze mich zu Eric, beginne ihm die Anfangsworte seines Briefes zu buchstabieren, bis andere Kinder das ohne Aufforderung uebernehmen. Ich geh' kurz pinkeln. Der Regen steht wie eine graue Mauer vor mir.

Ich trete ins Klassenzimmer zurueck. Eric sitzt nicht mehr an seinem Platz. Er sitzt jetzt in der letzten Bank, ein anderer schreibt an seiner Seite den Brief. Enrico ruft mir zu, er glaube wir muessten die Briefe zensieren: Eines der Maedchen frage nach Telefonnummern. Die Regensalven peitschen ueber uns. Bugs dreht sich zu mir: "Ich glaub' sie haben den das Konzept eines Briefwechsels nicht gerafft." Enrico ruft herueber: "Doch die schreiben teils Einkaufslisten." Ich stehe auf, weise auf die Wachsmalstifte hin. Beim setzen sagt Bugs: "Ich frag' mich, was die Lehrer hier machen." Zwei Kinder wollen Stifte, waehrend ich sie verteile fragt ein drittes wie man 'Phone' buchstabiert. Ich zoegere kurz. Und buchstabiere P H O N E. Warum? Weil es so real, so wirklich ist. Enrico murmelt im Vorbeigehen: "Die Bettelmentalitaet ist der Hammer." Ich packe mehr Stifte aus. Enrico schaut mich an, fragt kopfschuettelnd: "Wie soll man das den Kindern in Deutschland erklaeren?"

Mira erklaert einer unserer Schuelerinnen, es seien deutsche Kinder, hoechstens in der fuenften Klasse. Erlaeutert, dass diese kein Geld verdienen, auch nur Schueler sein. Das Maedchen streicht phone (3) durch. Book, pen, bicycle bleiben stehen. Es ist fuenf vor drei. Fast alle Briefe sind fertig geschrieben, die meisten auch mit Malereien versehen. Enrico macht von jedem Kind ein Einzelfoto; die Kinder in Deutschland sollen ein Bild zum Brief bekommen, so wie unsere Kinder je ein Bild aus Deutschland erhalten haben. Der Regen ebbt ab. Wir verabschieden uns von den Kindern.

Meine Stimme durchbricht unser verregnetes Schweigen: "Wisst Ihr was ich Positives aus diesem Nachmittag ziehe?" Ein zynisches Laecheln zuckt ueber meine regennassen Zuege. "Ich kann 'nen Blogeintrag drueber schreiben." Mira widerspricht mir, dass sei nicht das einzige, immerhin hatten einige Lesen und Schreiben koennen, es sei auch schoen, wie die Kinder sich gegenseitig geholfen haben. Wiegen diese kleinen positiven Aspekte die negativen auf?

In mir hat sich Enricos Frage verfangen, ich krieg' sie nicht mehr los: "Wie soll man das den Kindern in Deutschland erklaeren?" Kann ein deutsches Kind verstehen, dass ein ghanaisches Kind durch Fernsehbilder, durch Touristen, durch Entwicklungsfachkraefte, durch Freiwillige so gepraegt wird, dass es denkt alle Menschen mit weisser Haut Leben im Ueberfluss. Mit den Materialien, mit dem Rucksack, mit der Kamera bin ich Teil des Problems, denn ich vermittle den Eindruck von Wohlstand. Bin ich noch Individuum, bin ich noch Robert? Oder bin ich der reiche Weisse? Mir sieht man die Millionen Arbeitslosen in Deutschland nicht an, mir sieht man den Frust der 20% Arbeitslosen in Spanien nicht an, mir sieht man die gewaltsamen Demonstration gegen griechische Sparmassnahmen nicht an. Das koennen die Kinder nicht wissen, das koennen die Kinder auch nicht verstehen, das verlange ich auch nicht. Aber das Bild des reichen Weissen beschraenkt sich ja auch nicht auf unsere Kinder. Die Medien, vor allem die Filme hier zeigen die schoenen Seiten Europas, von Demonstrationen, Arbeitslosigkeit und Krisen ist nichts zu sehen. Es wird auch nicht gezeigt, dass Wohlstand auf Grundfesten beruht; auf Arbeitswillen, Verantwortungsbewusstsein, Wettbewerb und Leistung. So entsteht ein paradiesisches Bild Europas, dass auch zur Forderung nach Gaben einlaedt, die haben mehr, die koennen geben, die muessen geben, manch ein Politiker spraeche da vielleicht von spaet-roemischer Dekadenz.

Nicht vergessen darf man aber, dass traditionell in Ghana die reichste Familie des Ortes in gewisser Weise die Funktion einer Kreditanstalt uebernimmt. Im kulturellen Verstaendnis eines Ghanaers ist es also vollkommen normal den Reicheren um finanzielle Hilfe zu bitten, wobei auch dabei stets eine Gegenleistung in irgendeiner Form erbracht wird. Warum wird uns scheinbar keine Gegenleistung erbracht? Vielleicht weil wir nicht Teil dieses Sozialstaats-Ersatz sind. Vielleicht weil wir nicht ein eigentlicher Teil der gemeinschaftlichen Gesellschaft sind. Vielleicht weil alles was wir bringen als Spende angesehen wird, fuer die man keine Gegenleistung bringen muss. Vielleicht weil wir so reich sind, dass keine Gegenleistung noetig ist. Vielleicht, vielleicht.... ich weiss es nicht.

Wie immer gilt: Alle hier geschilderten Erlebnisse und Erfahrungen sind als exklusive Ereignisse zu betrachten, es handelt sich hierbei um meine persönlichen Erfahrungen und meine Schlussfolgerungen, die keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit haben.

Freitag, 25. Juni 2010

Es ist an der Zeit ...

Es ist Dienstagabend, gerade einmal fuenf Minuten nach halb elf. Meine Mitbewohner sind schon vor mehr als einer halben Stunde ins Bett gegangen. Nur ich kann nicht schlafen, ich hab' es wieder. Ich hab' nur noch kein Wort dafuer. Ich erinner mich nicht daran, wann ich es zum ersten Mal fuehlte, es mag schon Jahre zurueckliegen. In den letzten zwoelf Monaten hatte ich es so viele Male. Dieses Gefuehl. Es hat mich schweben lassen, es hat mich zu Boden gezerrt und es hat mich neu aufleben lassen. Das Gefuehl vergehender Zeit.

Zeit ist geraeuschlos, unsichtbar, unantastbar, unbegreiflich. Wir benennen sie, wir teilen sie ein in Jahre, Tage, Stunden, in dem vergeblichen Versuch sie dadurch greifbarer zu machen. Sie ist unumkehrbar, unaufhaltsam, unerbittlich. Eine sanfte Gewalt.

Es ist nahezu eine Stunde vergangen seitdem ich begonnen habe zu schreiben, das fuehle ich nicht, das sagt mir die Anzeige meines Laptops. Gerade kann ich es wieder einmal nicht fassen, wie konnte die Zeit so vergehen? Ist das ueberhaupt das richtige Wort "vergehen", fliesst die Zeit nicht eher? Mir gefaellt die Metapher des Flusses. Aber hat nicht jeder Fluss einen Ursprung? Wo beginnt die Zeit und wo endet sie?

Jetzt- Das ist Mittwoch, ca. viertel nach fuenf und ich bin schon wieder wie besessen, eigentlich sollte ich mein Fitnessprogramm durchziehen, aber in mir spuere ich diese Unruhe. Seit Wochen tragen ich mich mit diesen Gedanken. Zeit- das ist Physik, Philosophie, Psychologie. Lange galt in der Physik Isaac Newtons Annahme der "absoluten Zeit", die noch heute unserem deutschem Alltagsverstaendnis zugrunde liegt: "Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfliesst an sich und vermoege ihrer Natur gleichfoermig und ohne Beziehung auf irgendeinen aeusseren Gegenstand." Gleichfoermig? Ohne Bezug auf aeussere Gegenstaende? Etwas in mir straeubt sich dagegen. Es gibt Abschnitte meines Aufenthalts hier die scheinen nicht zu enden, und doch ist es nur das was wir einen einzigen Tag nennen. Es gibt Ereignisse, ich blinzle, und mein Kalender teilt mir mit, es sei eine Woche vergangen. Wie soll das "absolut", wie soll das "gleichfoermig" sein? Nicht umsonst stattet die deutsche Sprache uns mit den wunderschoenen Worten "kurzweilig" und "langweilig" aus. Zeitempfinden ist subjektiv, Zeitmessung ist objektiv und die Zeit selbst?

Jetzt haeng' ich fest, im Kopf habe ich das Bild einer undurchdringlichen, wabernden Substanz, undurchdringlich und doch nicht zu beruehren... so komme ich nicht weiter, ich blaetter durch eine der "SPIEGEL"-Ausgaben die auf unserem Wohnzimmertisch liegen. Ich stosse auf einen Artikel, der mit einem Foto versehen ist. Gezeigt wird die Tafel eines Klassenzimmers mit dem Anschrieb: "Zeit ist/bringt Geld" Als waer die Thematik nicht schon kompliziert genug, nun kommt auch noch "Zeit" als Wirtschaftsgut hinzu. Was mir dieser Satz aber vor allem bewusst macht ist, dass Zeitverstaendnis kulturell bedingt ist. In Deutschland scheint mir das Verstaendnis der "absoluten Zeit" zu gelten, sie macht Zeit zu etwas Transzendentem. Die Zeit scheint losgeloest vom Individuum zu sein, ihm uebergeordne, parallel zu existieren als gaebe es irgendwo eine gigantische Uhr, die tickt, die Abhaengigkeit schafft. Bedeutet diese Vorstellung, dass mir Zeit zugesprochen wird. Kommt daher vielleicht die Formulierung "man solle keine Zeit verlieren"?

Oder doch eher von der Vorstellung, dass "Dasein" durch Entscheidungen beeinflusst wird, jegliche Entscheidungsspielraeume jedoch aufgrund des unweigerlichen Todes endlich sind. Der Mensch rechnet mit Zeit, weil er im Wissen um seine Endlichkeit fuer sich und andere sorgt. Gilt es deshalb "keine Zeit zu verlieren"? Und schon wieder verheddere ich mich, in diesem Wirrwarr von Zeit, Zeitempfinden und Zeitverstaendnis. Ich lasse meine Augen ueber unsere Wohnzimmerwaende schweifen, da stehen viele Sprueche von uns, fast alle haben einen zeitlichen Aspekt. Da steht "Lieber spaet als nie" und "Abwarten, Tee trinken", mein Blick bleibt haengen. Ich laechle. An unserer Wand steht "Zeit ist relativ".

Seit Einsteins Relativitaetstheorie liegt fuer viele Physiker der Ursprung der Zeit im Urknall. Zeit, Raum, Materie, Gravitationsfelder alles steht in Relation mit und zu einander. Alles ist relativ. Von Newtons "absoluter Zeit" kann folglich keine Rede sein. Ist der Urknall also der Quellort des Stroms der Zeit? Kann ich Stromschnellen schaffen? Daemme bauen? Das Flussbett erweitern damit sie traeger dahin fliesst?

Es ist der Abschnitt in der Woche, den wir Donnerstag nennen, seit wenigen Wochen ist es kuehler und regnet mehr, ich bin erkaeltet. Ich mache wieder kein Fitnessprogramm, dafuer habe ich Zeit zu schreiben. Interessante Formulierung, oder? Hatte ich die Zeit vorher etwa nicht? Habe ich sie etwa dazu gewonnen? Ich habe mich doch lediglich entschieden meine Zeit anders zu nutzen. Ich komme wieder zur Relativitaetstheorie. Da ist von einer Eigenzeit die Rede. Das gefaellt mir, die Zeit durchdringt mich, ist Teil von mir, nichts Transzendentes (obwohl, sagt man nicht Gott lebt in uns allen? Das wuerde jetzt doch zu weit weg fuehren). Wenn Zeit ein Teil meines Seins ist, selbst wenn es nur ein Produkt meines Bewusstseins ist, dann kann ich keine Zeit verlieren, denn das bedeutete einen Teil meiner Selbst zu verlieren. Ich kann Zeit verschwenden, aber nicht verlieren.

Ich habe heute mal wieder viel ueber die deutsche Sprache nachgedacht. Es gibt faszinierende Formulierungen im Hinblick auf Zeit. Dabei ist mir aufgefallen, dass viele davon stark mit unseren Kulturvorstellungen korrelieren . "Ich hatte keine Zeit", "Zeit ist Geld", "Ich nehme mir die Zeit", darin sehe ich das Verstaendnis der "absoluten Zeit", das Verstaendnis der Zeit als einen oekonomischen Wert, der wiederum Abhaengigkeit schafft. In Ghana (so scheint es zumindest mir) wird Zeit anders aufgefasst und folglich auch anders mit ihr umgegangen. Ich sitze in einem Sessel unseres Wohnzimmers, erinnere mich an unzaehlige Trotro-Fahrten bei denen ich auf weitere Fahrgaeste wartete. Jetzt, in diesem Moment, der bereits beim Schreiben der Worte von Gegenwart zu Vergangenheit wurde, meine ich zu verstehen, warum Ghanaer kein Problem hatten so viel Zeit mit Warten zu verbringen. In ihnen scheint die Idee der Eigenzeit tief verankert zu sein, sie sind nicht abhaengig von einer "absoluten" uebergeordneten Zeit. Zeit als etwas Eigenstaendiges ist fuer sie wahrscheinlich ein befremdlicher Gedanke. Sie haben keine Zeit beim Warten verloren, denn sie ist ja Teil von ihnen.

Auf dem Weg nach Ankukrom aus dem Fenster des Trotros sehe ich die Mitarbeiter unseres Wohnkomplexes gemeinsam im Wachhaus des Eingangstor sitzen, sich unterhalten, palavern. Drei einhalb Stunden spaeter bei Rueckfahrt sehe ich sie noch immer (oder vielleicht schon wieder) dort sitzen. Ich frage mich, wie haben sie die Stunden, die Zeit genutzt? "Zeit nutzen" auch so eine schoene Formulierung. Doch damit halte ich mich nicht auf. Meine Gedanken springen weiter. Wie sollte man seine Zeit nutzen? Auf diese scheinbar komplexe Frage meine ich eine erstaunlich simple Antwort zu finden: Jeder sollte seine Zeit so nutzen, dass er gluecklich ist. Wenn das bedeutet, taeglich fuer Stunden mit anderen zusammen zu sitzen und zu palavern, gut. So lange es mir frei steht meine Zeit nach meinem Willen zu nutzen, denn Palavern wuerde mich nicht gluecklich machen. So wie ich den Gedanken vollende, kommt mir das Wort Prioritaet in den Sinn- "Zeit" ist untrennbar mit dem Begriff Prioritaeten verbunden, diese wiederum sind kulturell bedingt. In einer eher kollektivistischen, phlegmatischen Gesellschaft hat das Gemeinsame Vorrang, zusammen sitzen, gemeinsam palavern, in einer eher individualistischen, leistungsorientierten Gesellschaft herrscht die Vorstellung Zeit effektiv, effizient, produktiv zu nutzen. Bevor ich die Maenner vom Tor aus den Augen verliere, schleicht ein weiterer Gedanke in mein Bewusstsein. Was weiss ich denn, worueber die Maenner diskutieren, es koennte vom letzten Fussballspieltag ueber die politische Agenda bis zu einem philosophischen Diskurs ueber die Zeit selbst einfach alles sein. Haetten sie ihre Zeit dann etwa nicht effektiv genutzt? Ich steige aus dem Trotro, mir wirbeln Ideen, Gedankenfetzen durch den Kopf. Zurueck im Haus faellt mir Spruch an unserer Wand in die Augen, da steht "Carpe diem".

Jetzt- Das ist Freitagabend. Kurz nach halb elf. Erneut kreisen meine Gedanken um Zeit, aber auch um Worte, um Zeitworte. "Zeit totschlagen" und "Zeitvertreib", zwei Formulierungen derer ich vor zwoelf Monaten kaum gedacht, ganz zu schweigen grosse Beachtung habe zukommen lassen. Wie sich doch die Zeiten aendern. (Ihr seht ich habe grossen Gefallen an Zeitworten gefunden) Aber zurueck zum Vertreiben und Totschlagen. Nach meinen vorangegangen Ueberlegungen sollte ich eigentlich zum Schluss kommen, dass bedingt durch die allgemeine Endlichkeit, ich jeden Augenblick, jeden Moment, jeden Zeitabschnitt, mag es Sekunde oder Stunde sein, hochschaetzen und auskosten sollte. Da erscheint mir der martialische Ausdruck des "Zeit-Totschlages" doch gerade zu ketzerisch, ebenso der des "Zeitvertreibs", auch wenn dieser immerhin nicht martialisch ist. Gleichzeitig (ich hab' wirklich Freude daran) entsinne ich mich aber der unzaehligen Situationen, in denen ich hier wartend wohl genau das getan habe, "Zeit totgeschlagen". Wie sollte ich diese Momente, denn schaetzen, geniessen, auskosten? In mir regt sich was... da war doch was. Ich steh' vor einer gedanklichen Wand. Ich schau an die tatsaechliche, sichtbare Wand. "Zeit ist relativ". Das war's. Ich brauche diese Momente nicht zu schaetzen, auszukosten, zu geniessen. Ich habe die Kontrolle, ich kann sie verfliegen lassen, ich kann Stromschnellen schaffen. Buendel ich meine Gedanken, meine Aufmerksamkeit, meine Taetigkeit auf etwas, das mir Freude bereitet, das schoen ist, das aufregend ist, so wird aus einem nicht endenwollenden Warten eine kurzweilige Angelegenheit. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass es nicht moeglich ist das Flussbett zu erweitern ohne Langeweile zu schaffen. Schoene Momente sind zwangsweise kurzweilig und lassen sich nicht in die Laenge ziehen.

Jetzt- Das ist Montag. Soeben habe ich in Camus "Die Pest" folgende Worte gelesen, die wunderbar zu meinen Ueberlegungen wenige Tage zuvor passen: "Frage: was tun, um seine Zeit nicht zu verlieren? Antwort: sie in ihrer ganzen Laenge auskosten. Mittel: tagelang auf einem unbequemen Stuhl im Wartezimmer eines Zahnarztes sitzen; den Sonntagnachmittag auf seinem Balkon verbringen; Vortraege anhoeren in einer Sprache, die man nicht versteht; in der Eisenbahn die laengsten und umstaendlichsten Strecken fahren, selbstverstaendlich stehend; am Vorverkaufsschalter eines Theatersschlange stehen und keine Karte loesen usw. usw." Mag die Zeit auch nicht verloren sein, derer man eindruecklich bewusst ist, die man traege dahin troepfeln spuert, weil sie sich nicht in Aufregendem verfluechtigt, sich nicht im Schoenen verliert, so ist sie doch verschwendet. Was Camus' Tarrou "nicht verlieren" sogar "auskosten" der Zeit nennt, empfinde ich als Zeitverschwendung. Auf Tarrous Weise mag man das Flussbett erweitern, aber eine solche Dehnung der Zeit widerspricht meinem inneren Drang, ich ziehe das Kurzweilige, das Aufregende, das Schoene vor. Die Stromschnellen.

Die Kopflehne meines Sessels reibt an der Wand. Ich stehe auf, um den Sessel zurechtzuruecken. Der Spruch an dieser Wandstelle ist ein wenig verwischt, aber fuer mich dennoch seit kurzem klarer als zuvor: "Der Tag ist das, was man daraus macht".

Heute: Das ist 30 Tage vor Heimkehr. 30 Tage, die eine kleine Ewigkeit oder ein Blinzeln in einer Stromschnelle sein koennen.

Letztlich ist es relativ.

Dienstag, 15. Juni 2010

"Ghana vs. Afrika" oder "Die Panafrikanische Idee"

Ich sitze im Trotro, wie lange wir wohl noch auf weitere Fahrgaeste warten muessen, in meinen Haenden liegt mein kleines Buechlein, unbeholfen versuche ich meine Gedanken ueber Zeit und Zeitempfinden festzuhalten, aber es will mir heute einfach nicht gelingen. Ein Stimme dringt zu mir durch, ein Mann steht mitten vor der offenen Schiebetuer des Trotros und ruft: "Obroni in Ghana! Obroni in Westafrica!" Aus dem Gewirr von Verkaeufern tritt ein zweiter hinzu und schreit: "Obroni in Africa!" Auf mein Laecheln folgt die unvermeidliche Frage, wie es mir hier gefalle in Ghana, in Afrika. Ich loese mich von meinen Zeitgedanken und erwidere, Ghana sei sehr schoen, nur ueber Afrika als Ganzes koenne ich nichts sagen. Mit unglaeubigen Erstaunen, ruft mein Gespraechspartner einen Satz, den ich nur zu gut aus Begegnungen hier in Ghana kenne,: "This is Africa!" Drei Worte, die mich einmal mehr in tiefes Gruebeln verfallen lassen.

Ich denke an mein Vorbereitungsseminar, Dank dessen ich in nahezu allen Blogeintraegen hyper-sensibilisiert und politisch korrekt gewesen bin (oder es zumindest versucht habe). Ich denke daran, dass ich ein bestimmtes Wort nur zwei Mal in meinen bisherigen 38 Eintraegen verwendete: "Afrika". Erstaunlich, oder? Schliesslich bin ich doch in Ghana, einem afrikanischem Land. Warum also habe ich so selten "Afrika" geschrieben, ganz einfach: Beim Vorbereitungsseminar wurden wir Freiwilligen alle mehrfach, fast schon bis zum Erbrechen, sensibilisiert und ermahnt, dass wir nicht verallgemeinern sollen (niemals!), dass wir betonen sollen, dass wir Erfahrungen in Ghana sammeln und deshalb die Nutzung des Begriffs "Afrika" vermeiden sollen, weil dadurch das in westlichen Medien so oft bemuehte Bild eines kohaerenten Afrikas verfestigt wird und man damit nur zu Stereotypisierung beitraegt, und eines der Ziel unseres Freiwilligenjahres ist es doch Vorurteile durch persoenliche Erfahrungen abzubauen. Ganz dem hehren Ziel des Freiwilligendienstes ergeben, vermied ich also die Nutzung des Wortes "Afrika" und betonte stets Ghana.

Nun sitze ich im Trotro, mir erklingen wieder die Ermahnungen der Tutorin:
"Afrika", das Wort allein ruft durch die Auswahl und Berichterstattung der deutschen und westlichen Medien negative Assoziationen hervor. Das ist ein Relikt der Kolonialzeit, in der sich nicht die Muehe gemacht wurde die Laender zu nennen, denn es war ja nur "Afrika". Macht immer deutlich, dass Ihr in Ghana seid, dass daraus keine Schluesse auf andere afrikanische Staaten gezogen werden koennen.

Noch waehrend die Worte in mir verklingen, regen sich gegensaetzliche Erinnerungen: Buchpassagen ueber die Erfahrungen einer Somalierin, die alltaegliche Szenen beschreibt, die mir seltsam vertraut erscheinen, bloss bin ich doch in Ghana und nicht Somalia. Buchpassagen eines Anthropologen aus Kamerun, der scheinbar auch Erlebnisse mit mir geteilt hat. Kapuscinski, der in "Afrikanisches Fieber" so viele kleine wohl bekannte Begebenheiten schildert.
Und vor allem Ghanaer, die jede afrikanische Fussballmannschaft bejubeln, ausser die nigerianische, aber dazu spaeter mehr. Ghanaer, die sich kaum kennen, aber mit 'Bruder' oder 'Schwester' ansprechen, und immer wieder die an mich gestellte Frage, wie es mir in Afrika gefalle.

Es reift in mir also der Gedanke, vielleicht gibt es da etwas, das Ghanaer mit anderen afrikanischen Laendern verbindet, vielleicht gibt es da etwas das den ganzen Kontinent eint. Vielleicht ist das die Panafrikanische Idee? Aber es reift auch die Frage, wie stark ist dieser Panafrikanismus?

Es gibt die panafrikanischen Farben (rot, gruen, gelb), die in den verschiedenen afrikanischen Nationalflaggen dominieren und von deren Sportlern stets bei jeder Gelegenheit mit grossem Patriotismus praesentiert werden. Die vor wenigen Tagen begonnene Fussballweltmeisterschaft in Suedafrika wurde mit Spannung erwartet, denn es ist eine gefuehlte Heim-WM fuer alle Afrikaner. In Fernsehberichten sehe ich afrikanische Fans, die es als selbstverstaendlich ansehen jede afrikanische Mannschaft zu unterstuetzen, es sei doch schliesslich eine afrikanische WM. Es ist dieser Einheitsgeist, der Ghanaer jubeln laesst, wenn Suedafrika die erste WM auf dem afrikanischen Kontinent gegen Mexiko eroeffnet, wenn die Elfenbeinkueste gegen Portugal antritt und wenn Kameruns Spieler zum ersten Mal den Ball beruehren. Zweifellos wird die eigenen Nation am staerksten unterstuetzt, aber sollte diese ausscheiden, und eine afrikanische Mannschaft vielversprechend aufspielen, so wird sie mit der Unterstuetzung des Kontinents rechnen koennen.

Doch auch neben den umjubelten Fussballspielern, den Essien, Mikels, Drogbas gibt es panafrikanische Idole abseits des Fussballplatzes. Alte wie Robert Mugabe (der einst ein Hoffnungstraeger des gerade in die Unabhaengigkeit entlassenen Kontinents war) und Kwame Nkrumah, sowie scheinbar zeitlose wie Nelson Mandela. Verdiente Maenner des Kampfes gegen die Unterdrueckung. Ein Kampf der den Kontinent, die Nationen, die Voelker, so scheint mir, hat naeher zusammenruecken lassen. Ist der Panafrikanische Gedanke also auch so stark, weil es den gemeinsamen Feind gab?

Dass die Panafrikanische Idee lebendig, stark und nahezu allgegenwaertig ist habe ich bei unserer Reise durch Togo und Benin gespuert. Die Menschen sprechen oft und viel ueber Afrika, ueber die Zukunft und die Rolle Afrikas. Dabei wird ein bewundernswertes Gefuehl der Gemeinsamkeit, Geschlossenheit und Einheit vermittelt, von dem wir in Europa, das wurde in der Diskussion um die Griechenland-Rettung ueberdeutlich, noch weit entfernt sind.

Auch die Afrikanische Union ist ein Beispiel der Staerke des Panafrikanischen Gedankens. Diese wurde bereits 1961 durch die neuen Staatsoberhaeupter, der damaligen so frisch von der Unabhaengigkeitswelle erfassten afrikanischen Laender, gegruendet. Vier Jahre zuvor hatte es gerade einmal einen Zusammenschluss der Benelux-Staaten, Frankreichs, Italiens und Deutschland zur Europaeischen Wirtschaft Gemeinschaft gegeben, der erste Schritt zur Europaeischen Union, die erst 1993 ganze 32 Jahre nach der Afrikanischen Union erschaffen wurde.

Bei alle dem darf jedoch nicht vergessen werden, dass auch der Panafrikanismus seine Grenzen hat und es sich als sehr fragiles Gebilde erweisen kann. Nigeria und Nigerianer bspw. sind fuer viele Ghanaer ein Aergernis. Nigeria war einst Hoffnungstraeger der afrikanischen Westkueste gewesen, der bevoelkerungs- und erdoelreichste Staat Westafrikas, zog Wirtschaftsmigranten aus der gesamten Region an. Doch dann versank das Land in Buergerkriegen und Oel-Skandalen. Aus der Wirtschaftshoffnung wurde ein Problemfall und seit einigen Jahren findet eine verstaerkte Emigration nigerianischer Buerger statt. Aufgrund der positiven Entwicklungen der letzten Jahre ist Ghana als aufstrebender Wirtschaftstraeger ein wahrer Migrationsmagnet. Viele Nigerianer insbesondere in Accra sehen sich gezwungen im informellen Sektor zu arbeiten oder gaenzlich illegal ihren Unterhalt zu bestreiten. Dadurch werden sie den Ghanaern missliebig, weshalb meine Kollegen und ich bereits mehrmals mit Aussagen wie, dass es bevor die Nigerianer kamen, keine Kriminalitaet in Ghana gegeben habe, konfrontiert wurden. Selbst unser Gastvater, den wir als sehr besonnen und pragmatisch kennen gelernt haben, freute sich ausgiebig, als die Schweiz die U-17 WM im Finale gegen Nigeria gewann, und prophezeite uns bei der Live-Uebertragung, dass es zu Ausschreitungen durch die nigerianischen Fans kommen wuerde. Was nicht der Fall war. Es entsteht somit der dringliche Eindruck, dass die Panafrikanische Idee zumindest in der Sicht vieler Westafrikaner Nigeria ausschliesst.

Gibt's vielleicht noch weitere Ausschluesse?

Ja. Bereits am zweiten Tag in Ghana lernte ich etwas Entscheidendes ueber den Panafrikanischen Gedanken. Mitarbeiter unserer NGO fragten uns, ob wir denn schon einmal in Afrika gewesen seien, als ich bejahend antwortete, ich sei in Aegypten, Tunesien und Marokko gewesen, stellten sie postwendend klar, dass ich noch nicht in Afrika gewesen sei. Es scheint als sei die noerdliche geographische Grenze der Panafrikanischen Idee nicht das Mittelmeer, sondern die Sahara. Folglich ist der Subsahara-Teil des Kontintens das "wahre Afrika". Eine grosse Rolle bei dieser Abgrenzung spielt die Hautfarbe, die wohl am staerksten zur Identitaetsstiftung beitraegt. "Obroni" der weisse Mann und "Obrofou" der Englaender: Das sind nicht nur wir oder alle Westler. Das sind, wie wir bei Gespraechen mit den Lehrern in Ankukrom heraushoerten, auch die Nordafrikaner, Aegypter und Algerier! Und selbst Suedafrika, das derzeit so oft als Regenbogennation in den deutschen Medien Erwaehnung findet, nimmt gerade dadurch im Panafrikanischen Gedanken eine Sonderrolle ein.


Letztlich komme ich zu dem Schluss, dass es Eigenheiten gibt die mir wahrscheinlich in vielen afrikanischen Laendern begegnen koennen, aber da ich nicht weiss welche der taeglichen Erlebnisse mir auch bspw. in Ouagouadougou (Hauptstadt Burkina-Fasos) passieren koennten, bleibe ich dabei es als ghanaische Gepflogenheit zu betrachten.

Was den Panafrikanischen Gedanken anbelangt, so laesst sich aus meiner Sicht nach fast elf Monaten in Ghana sagen, dass die Panafrikanische Idee, entstanden aus dem Widerstand gegen die Kolonialisten, sich zu einem eigenstaendigen Selbstwert entwickelt hat. Panafrikanismus scheint fuer viele eine starke, lebendige, hoffnungsvolle Vision zu sein. Doch reicht eine Vision?

Sonntag, 16. Mai 2010

Im goldenen Kaefig

Am 30.04. hatte Bugs einen unverhofften Anruf des Landesdirektors Herr B. unserer Entsendeorganisation erhalten, der uns zur Teilnahme an einem Fussballturnier in Accra einlud. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr damit gerechnet, denn die erste Einladung war im November erfolgt und seitdem war nichts zu hoeren gewesen und ich hatte die Einladung als Lippenbekenntnis abgetan. Aber wie sich nun herausstellte war dem nicht so. Dementsprechend gross war meine Vorfreude auf das Turnier das am Samstag, den 8. Mai in Accra auf dem Gelaende einer Deutsch-Schweizer-Internationalen-Schule stattfinden sollte.

Samstag (8. Mai) Um fuenf Uhr morgens standen wir vier auf. Nicht nur wir drei Maenner, die wir spielen wuerden, sondern auch Mira machte sich auf den Weg in die Hauptstadt, zum einen um uns zuschauen, zum anderen um kurz einen Freiwilligenkollegen zu besuchen. So standen wir noch vor Sonnenaufgang auf (was mir das Fussball alles wert ist), als ich vor die Tuer trat um zu pinkeln, weil derzeit weder Dusche noch Klospuelung funktionieren, bemerkte ich, dass unsere Nachbarn auch schon wach und sehr geschaeftig waren. Ich gehe davon aus, dass unser Nachbar nicht zu einem Fussballturnier musste, sondern er vielmehr jeden Samstag (bzw. wahrscheinlich jeden Tag) so frueh schon wach ist, warum ist mir noch nicht klar, denn die Arbeit kann es am Wochenende mit Sicherheit nicht sein. Auf dem Weg zur Trotrostation begann die Tagesdaemmerung und als unser Trotro kurz nach sechs die Station verliess, war es schon helllichter Tag.

Den Grossteil der Fahrt verbrachte ich trotz aller Unbequemlichkeiten (ich hatte das Pech neben einer dicken Frau mit Kind zu sitzen) schlafend zu den Klaengen aus meinem Ipod. Kurz vor Accra erhielt Bugs einen Anruf von Herr B., ob wir denn bald da seien, denn das erste Spiel sei fuer acht Uhr angesetzt. Aufgrund des regen Verkehrsaufkommen vor Accra schafften wir es leider nicht zum ersten Spiel, machte auch nichts, denn das gewann unsere Entsendeorganisation gegen eine Elternmannschaft der Schule auch ohne unser Mitwirken mit 4:1.

In Accra an einem Knotenpunkt angekommen, rief Bugs seinerseits Herrn B. an um die letzten Wegbeschreibungen zu erhalten, allerdings war dieser fussballerisch verhindert, weshalb Frau B. antwortete. Sie war auch bemueht uns zur Schule zu leiten, Bugs bedingt durch seine mangelnden Strassenkenntnisse von Accra gab sein Handy direkt an Mira weiter, doch selbst als Accra-Veteranin konnte sie aus der Beschreibung nicht schlau werden, weshalb wir beschlossen ein Taxi zu nehmen und uns an zwei, drei Fixpunkte der Beschreibung zu halten. Nach kurzer Verwirrung und einem weiteren Anruf von Herrn B. hatten wir dann tatsaechlich die richtige Strasse gefunden und passierten auch schon unseren Landesdirektor, der zu unserer Orientierung auf dem Weg zur naechsten Strassenkreuzung war.

Beim Betreten des Schulgelaendes fiel mir sofort der Schriftzug auf der Tafel des Schulcafes ins Auge "Schwitzer Huesli", das versprach ein interessanter Tag zu werden. Auf dem Weg zum Spielfeld passierten wir die mehrstoeckigen Unterrichtsgebaeude, sowie die Pausenhoefe ausgestattet mit einem Spielplatz, einem Betonbasketballplatz und Tischtennisplatten. Mir kamen Kinder entgegen, an sich nicht erstaunlich, nur wann hatte ich zuletzt weisse Kinder gesehen? Am Ende des Ganges: Gras, gruenes Gras, ein Rasen, ein kleines Fussballfeld mitten in der Hauptstadt, von einer der zentralen Strassen in Accra nur durch eine hohe Mauer und wenige Meter getrennt. Nahe des Ganges, am Ende des Fussballfeld, so weit wie moeglich im Schatten die Ehefrauen und Muetter. Waehrend ich staunend die Ausstattung und vor allem den Rasenplatz bewunderte, erklaerte der Landesdirektor, dass unsere Entsendeorganisation im Gegensatz zu zwei weiteren Mannschaften eigentlich ausreichend besetzt sei, weshalb einer fuer eine andere auflaufen solle, falls einverstanden. Die Aussicht gegen den Arbeitgeber zu treffen war einfach zu verlockend, sodass ich ohne zu zoegern zustimmte.

In Retrospektive haette ich erst meine Mannschaftskameraden in Augenschein nehmen sollen, bevor ich meine Entscheidung traf, denn ich fiel ein wenig unter den Altersdurchschnitt (geschaetzte 20 Jahre zog ich den Schnitt nach unten). So kam es fuer mich nicht wirklich ueberraschend, dass wir aus drei Spielen nur ein Unentschieden holten, wobei ich den einzigen Treffer erzielte. Liebend gerne haette ich das auch gegen Enrico und unsere Entsendeorganisation (EO) wiederholt, aber es wollte nicht gelingen.

Zwischen und nach meinen eigenen Partien war Fussball fuer mich an diesem Tag unerwartet nebensaechlich, zu sehr war ich von der sich bietenden Atmosphaere in den Bann gezogen. Um mich herum wurde nur deutsch gesprochen, und als ein Spieler der EO-Mannschaft seine Koernerbrot-Stulle und die Apfelschnitzen aus der Tupperbox auspackte, hatte ich fast schon verdraengt, dass ich ja eigentlich in Ghana bin. Wenn da nur nicht die hohe Trennmauer im Hintergrund gewesen waere.

Am Nachmittag nachdem Enrico im Finale das Siegtor fuer unsere EO gegen die Oberstufenmannschaft erzielt hatte, fand die Siegerehrung statt. Zuerst waren natuerlich die Kindermannschaft an der Reihe, ein jedes Kind bekam einen kleinen Pokal und einen Fussball (einen Lederfussball). Warum betone ich die Tatsache des Lederfussballs? Ganz einfach, weil nahezu alle Baelle mit denen sonst hier in Ghana gespielt werden Kunststoff-Gummi-Baelle sind, weil Lederbaelle zu teuer sind. Unsere Schule in Ankukrom, die mehr als 200 Schueler umfasst, besitzt gerade einmal zwei Lederbaelle und nun bekommen die Kinder der internationalen Schule, denen es bestimmt an nichts mangelt, alle einen Lederfussball geschenkt.

Im Anschluss daran erfolgte die Siegerehrung der Erwachsenen und zu meiner grossen Ueberraschung bekam auch jeder Erwachsene einen kleinen Teilnahme-Pokal. Ich freute mich riesig, denn das hatte ich seit der D-Jugend nicht mehr bekommen, einen Pokal einfach nur fuer die Teilnahme. Allein fuer den Pokal hatte sich das fruehe Aufstehen gelohnt.

Um eine angemessenen, gemuetlichen Abschluss zu finden, lud uns der Landesdirektor noch vor Ort zum Essen ein. Waehrend ich an meinem Bier nippte und mit grossem Interesse verfolgte wie Bundeligaergebnisse und Formel-1 Startaufstellungen am Tisch zirkulierten, wartete ich mit Spannung auf mein Essen, welches Herr B. bestellt hatte ohne die Kellnerin (die zugegebenermassen wenig Kompetenz und noch weniger Enthusiasmus an den Tag legte) eines Blickes zu wuerdigen.
Aber es kam. Es sah aus wie eine, es roch wie eine, es schmeckte wie eine, eine echte Bratwurst (ob ich nach mehr als neun Monaten eine echte von einer falschen Bratwurst ueberhaupt noch unterscheiden kann, sei mal dahingestellt) Und zur Bratwurst gab es Kartoffelsalat, vergesst den Pokal, allein fuer das Essen hat sich das Aufstehen gelohnt. Angesichts meiner Begeisterung fuer das Essen, fragte eine Mitarbeiterin unserer EO, ob es bei uns in Ajumako denn keine Kartoffeln zu kaufen gebe. Da wir zuvor erklaert hatten, dass Ajumako ein Dorf auf dem Land ist, empfand ich die Frage als ein wenig unbedacht und realitaetsfern, aber ich war zu sehr mit der Bratwurst beschaeftigt um darauf zu verweisen, dass wir normalerweise ausserhalb des goldenen Kaefigs leben (da erwies mir die Bratwurst wahrscheinlich einen echten Dienst).

Nach einem Tag reich an Eindruecken, fuhr uns Herr B. noch mit einem seiner Dienstwagen zu einer Trotro-Station. Wir waren zurueck in der harschen Realitaet. Von dieser Station gelangten wir zum Kaneshie-Markt (von dort fahren die Trotros in verschiedenste Richtungen, unter anderem auch Ajumako). Den Kaneshie-Markt erreichten wir um kurz vor vier und reihten uns sofort in die Schlange des Ajumako-Ticketschalters ein. Waehrend der dann beginnenden Wartezeit (die sich insgesamt ueber mehr als zwei Stunden ausdehnen sollte), erschlichen sich noch ein Paar Leute einen Platz vor uns und wie sollte es anders sein, als das Trotro kam, wurde der letzte freie Platz an die Person direkt vor uns vergeben. Naja, macht nichts, dachte ich mir, das naechste kommt bestimmt gleich und jetzt stehen wir direkt an erster Stelle, jetzt draengelt sicher keiner mehr vor. Eine halbe Stunde (die eine gefuehlte halbe Ewigkeit war) spaeter bemerkte ich ein Trotro, das in der Naehe des Ajumako-Trotro-Spots parkte. Momente spaeter stuerzte der hintere Teil der Warteschlange auf das Fahrzeug zu und drang durch die Tueren und den Kofferraum ins Innere. Willkommen ausserhalb des goldenen Kaefigs, wo man, auch wenn man in vorderster Wartefront steht, keinen Fahrplatz bekommt. Gluecklicherweise hatte eine Frauengesellschaft, die ein Trotro organisierte und das bis auf wenige Sitzplaetze mit ihren Einkaeufen (genug um eine kurze Quarantaene-Zeit zu ueberstehen) vollstopfte, noch vier Plaetze fuer uns frei und so kamen wir dann letzten Endes doch noch nach Ajumako.

Donnerstag, 6. Mai 2010

Warum Nidoking Level 46 ist und ich Batman bin

Wie lange stehe ich schon hier? Ich weiss es nicht, ich schaue auf mein Handy. Aber da ich nicht weiss, seit wann ich hier stehe, spielt es auch keine Rolle wie spaet es jetzt ist. Ein Mann spricht mich an. Ja, ich bin aus dem selben Grund hier. Das Stehen strengt mich an, ich lehne mich an die weisse Kalkwand, mir ist heiss. Der weisse Kalk faerbt an mein T-Shirt ab. Ich setze mich auf den Steinboden, die Wand spendet Schatten. Ich stehe wieder auf, das Sitzen ist unbequem.
Wie lange stehe ich schon hier? Sechs Meter von mir, in der erbarmungslosen Sonne steht ein Bottich mit Wasser. Immer wieder ziehen Muetter ihre Kinder aus und waschen sie ein wenig. Direkt daneben pinkeln Kinder in die Abflussrinne davor. Mein Kopf fuehlt sich schwer an, ist es die Hitze oder das Fieber, vielleicht auch beides.
Wie lange stehe ich schon hier? Ich weiss es nicht, ich habe zwei Mal die Top Vier der Pokemon-Liga besiegt. Durch den Moskitoschutz der gekippten Fenster werfe ich einen fluechtigen Blick in den Raum, noch immer wird mein Name nicht genannt. Ein Kind fordert den Gameboy von mir, ich weise es muerrisch ab und es geht. Wieder wird ein Name aufgerufen, wieder nicht der meinige. Ich setze mich wieder hin. Die Kirchenwand ist angenehm kuehl.
Wie lange sitze ich schon hier? Ich weiss nicht. Nidoking erreicht Level 46. Eine Mutter waescht ihr Kind, daneben uebergibt sich ein anderes in die Abflussrinne. Entfernt sind die Bauarbeiten am eigentlichen Warte- und Aufnahmeareal zu hoeren. Das Kind kommt und fordert wieder den Gameboy von mir. Nein! Und 0,50 Ghc? Nein! 0,30 Ghc? Nein! 0,05Ghc? Nein! Es geht wieder. Ich muss die Batterien wechseln. Drinnen wird ein Name genannt, nicht der meinige, aber ein Sitzplatz ist frei, ich gehe rein.
Wie lange sitze ich schon hier? Ich weiss es nicht. Der Warteraum ist bis zum letzten Platz gefuellt. Es ist laut, schreiende, weinende Kinder. Ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Eine Frau die unter Schluchzern und Schreien hinaus eilt. Wie lange ist es her, dass die Schwester meinen Blutdruck gemessen hat und ich ernuechtert mein Gewicht von nur noch 72 kg auf der Waage erblickt habe? War das mein Name, nein jemand anders hat schon reagiert. Husten, Keuchen, Stoehnen umgibt mich. Meine Gelenke schmerzen.
Wie lange sitze ich schon hier? Es liegen keine Akten mehr auf dem Tisch der Schwester, ich muss schon lange da sein. Ich wechsle von einer gruenen Holzbank zu einer anderen. Mein Name wird genannt. Ich kann aber nicht zuordnen aus welcher Richtung, ich wende mich links, und drehe eine Runde im Kreis bis ich zum richtigen Vorhang zwischen den Holzbrettern gelange. Der Arzt fragt mich nach meinem Befinden. Ich bin da um einen Arzt zu sehen, dass mir die Sonne nicht aus dem Arsch scheint sollte klar sein. Ich erklaere ihm, dass ich Fieber und Gliederschmerzen habe und seit drei Tagen Essen wie Trinken nicht laenger als eine halbe Stunde bei mir behalte, nur um es dann wieder als farbiges Wasser von mir zu geben. Ob ich Malaria-Prophylaxe nehme? Was tut das denn zur Sache, ich habe keinen einzigen Moskitostich, und uebergeben habe ich mich auch nicht. Ja ich habe Fieber und auch Schmerzen, wie bereits gesagt. Warum soll ich zum Bluttest? Lebensmittelvergiftung? Ist das denn noetig, das letzte Mal ging es doch auch ohne Test.

Wie lange sitze ich schon hier? Ich weiss es nicht. Ich koennte mein Handy aus der Hosentasche ziehen, auf die Uhr schauen. Jede Bewegung strengt an. Das Weiss der Wand vor mir wirkt grell, die Bodenfliesen sollten auch weiss sein, sie sind dreckig, Sand, Staub, Essenskruemel. Der kleine Junge zu meiner Rechten, laesst ein paar angekaute Maiskoerner aus dem Mund auf meine Fuesse fallen. Der Ventilator ueber mir geht nicht, der fuenf Meter weiter rechts geht, die Sitzplaetze dort sind vollbesetzt. Ich habe Durst.
Wie lange sitze ich schon hier? Ich weiss es nicht. Ich schaue den kleinen Jungen an. Ich muss schon eine ganze Weile da sein, er ist fertig damit seine angekauten Maiskoerner ueber den Fussboden zu verteilen. Die Tuer am Ende des Ganges oeffnet sich, ein Name wird gerufen, wieder nicht der meinige. Ich blicke auf den Boden. Fliegen am halbgekauten Mais.
Wie lange sitze ich schon hier? Ich weiss es nicht. Im Kopf habe ich das Bild eines langsam, unaufhoerlich tropfenden Wasserhahns. Es werden mehr Namen gerufen, es kommen neue Wartende, zwei davon legen sich auf den dreckigen Fussboden. Irgendwo am Ende des Ganges schreit ein Kind.
Wie lange sitze ich schon hier? Ich weiss es nicht. Mein Gelenke schmerzen, mir ist heiss. Der kleine Junge liegt in der Gangmitte auf einem Tuch nur unweit von seinen Maisresten. Seine Mutter wird aufgerufen, keine halbe Minute allein beginnt der Junge an zu weinen. Der Laerm strengt mich an. Wieder tritt ein Patient mit leerem Pinkelbecher aus der Tuer. Ich habe Durst, meine eigenen Gedanken quaelen mich mit Bildern eisgekuehlter Cola.
Wie lange sitze ich schon hier? Ein Mann mit Besen fegten den Gang. Sand, Staub, Essensreste, Ameisen, halbgekaute Maiskoerner. Ich muss schon lange da sein. Mein Name wird aufgerufen. Ich bin erleichtert, doch kaum durch die Tuer fragt der Mann mich nach meiner Versicherungskarte. Ich habe keine Versicherungskarte und frage ihn auch was ihm denn meine deutsche Versicherungskarte nuetzte. Er sagt, ohne Karte muesse ich es bar bezahlen, ich bin muede und frage, wie viel? Er wisse es nicht, ich solle zurueck zum Doktor gehen, der solle es aufschreiben. Ich bin nicht mehr muede, ich bin wuetend, ich frage ihn, ob es sein Ernst sei, nach Stunden des Wartens noch einmal die gleiche Prozedur zu machen. Er verweist mich an den Arzt.

Ich verlasse den Laborfluegel und suche den Arzt auf. Das Wartezimmer ist bis auf wenige Plaetze leer. Ich warte nicht, ich stecke einfach meinen Kopf ins Beratungszimmer. Er hat gerade einen Patienten. Ich ziehe den Kopf zurueck, wenige Augenblicke vergehen, der Arzt spricht mich an, bittet mich hinter einen anderen Vorhang.
R: "Ich bin seit heute Morgen hier, ich bin nicht bereit erneut zu warten, schauen sie auf meine Krankenakte, es ist das Gleiche wie beim letzten Mal, ich weiss, dass es das Gleiche ist, verschreiben sie mir einfach die Medikamente, damit ich gehen kann."
A: "Sie wollen also die Medikamente wo anders kaufen?"
R: "Ist mir vollkommen egal, hier oder wo anders, geben sie mir einfach die Medikamente."
A: "Das macht fuenf Cedis."

Die Medikamente haben auch sofort begonnen zu wirken, so dass ich das Abendessen bedenkenlos essen konnte. Allerdings hatte ich die Medikamente ueberschaetzt, so kam es, dass mein Magen um zwei Uhr nachts rebellierte und ich das Essen auskotzte, was ich immer noch als Verbesserung zu den vorangegangenen Tagen betrachtete, war nur schade ums Essen, es hatte so gut geschmeckt. Das war aber der letzte Fall unfreiwilliger Nahrungsmittelabgabe und sollte fuer drei Tage bedingt durch die Medikamente auch die letzte Nahrungsmittelabgabe jeglicher Art sein.

Auf jeden Fall bin ich wieder gesund und seit dem Wochenende ist auch unsere WG wieder vollstaendig. Zuerst kam samstags Enrico mit seiner Familie vorbei, die aber nur fuer wenige Stunde vor ihrem Rueckflug bleiben konnte, und sonntags kehrte auch Mira nach Ajumako zurueck. Unter der Woche stellten wir fest, dass eine Fledermaus Gefallen an unserer Waschkueche gefunden hatte. Als ich sie am fruehen Abend nahm um draussen auszusetzen, schien sie schwach und nicht allzu widerwillig aus dem Haus zu kommen, nach dem Abendessen war sie aber wieder in der Waschkueche, zumindest gehe ich davon aus, dass es sich um dieselbe Fledermaus handelte (denn sie tauchte einen Tag spaeter erneut auf), als ich sie dieses Mal nahm, zeigte sie sich weniger angetan und biss mich in den Finger. Was mir zwei Punkte zur Gewissheit verdeutlichte, zum einen, dass ich wenige Stunden zuvor die Fledermaus nur aufgrund des Tageslichts ohne Probleme aus der Waschkueche hatte tragen koennen, und zum anderen, dass ich Batman bin. In diesem Sinne wache ich nun ueber Gotham City, oder Ajumako oder so.