Samstag, 10. Juli 2010

Ein Regentag

So wirklich beginnt dieser Nachmittag beim Mittagsessen. Ich sitze an meinem ueblichen Platz und geniesse fuer den Moment, dass es etwas anderes als Reis gibt. Da sagt Enrico, er geht schon einmal vor. Das war so abgesprochen, dieses Mal soll einer von uns frueh genug sein.

Eine halbe Stunde spaeter treffen Mira, Bugs und ich auch in Abowinum ein. Dunkle Wolken am Himmel. Seit drei Wochen das erste Mal, dass wir dort auch eine offene Schule mit Schuelern vorfinden. Ich nehme neben Enrico platz, der mir berichtet, die Direktorin habe in vorwurfsvollem Ton gefragt warum wir in den letzten Wochen nicht mehr dort seien. Ich lache. Sie ist doch diejenige, die bei Regen die Schule schliesst, nicht wir.

Zwanzig vor zwei. Wir beginnen den Kids Club. Vor zehn Minuten haben die Lehrer den Unterricht beendet. Eigentlich geht der offiziell bis zwei, aber wen kuemmert das schon? Ich schaue mich im Klassenzimmer um. Sind das nicht mehr Schueler als es eigentlich sein sollten? Ein Blick an die Tafel klaert mich auf. Alle muessen erst noch ihre Hausaufgabenstellung abschreiben. Bei unserem Kommen bis wenige Minuten zuvor haben sie Fussball gespielt. Neben mir eine schuechterne Maedchenstimme: "Sir, the rain is coming."

Der Regen bricht los. Bugs sitzt drei Meter von mir entfernt, er ruft mir etwas zu. Ich verstehe nichts. Das Trommelfeuer auf dem Wellblech ueber unseren Koepfen ist ohrenbetaeubend. "Normaler" Unterricht ist unter solchen Bedingungen wohl wirklich nicht durchzufuehren. Aber in solchen Faellen bieten sich doch Stillarbeiten an.

Ich setze mich zu Eric. Der soll einen aus Deutschland erhaltenen Brief beantworten. Er schaut auf den empfangenen Brief, schaut auf das leere Blatt fuer seine Antwort. Er zoegert. Ich frage, ob er den Brief gelesen habe. Keine Antwort. Kann er die Schrift lesen? Sieht leserlich aus. Er beginnt zu schreiben: "My name..". Ich unterbreche ihn, erklaere der erhaltene Brief sei persoenlich an ihn addressiert gewesen, er brauche nicht "My name is..." schreiben. Ich trete ans Fenster - Wo ist der Sinn einer Brieffreundschaft, wenn die Kinder nicht lesen, nicht schreiben koennen, wenn sie keine Worte haben um sich auszudruecken? - Ich versuch' die negativen Gedanken abzuschuetteln, dreh' mich weg vom Fenster, zurueck zur Klasse. Setze mich zu Eric, beginne ihm die Anfangsworte seines Briefes zu buchstabieren, bis andere Kinder das ohne Aufforderung uebernehmen. Ich geh' kurz pinkeln. Der Regen steht wie eine graue Mauer vor mir.

Ich trete ins Klassenzimmer zurueck. Eric sitzt nicht mehr an seinem Platz. Er sitzt jetzt in der letzten Bank, ein anderer schreibt an seiner Seite den Brief. Enrico ruft mir zu, er glaube wir muessten die Briefe zensieren: Eines der Maedchen frage nach Telefonnummern. Die Regensalven peitschen ueber uns. Bugs dreht sich zu mir: "Ich glaub' sie haben den das Konzept eines Briefwechsels nicht gerafft." Enrico ruft herueber: "Doch die schreiben teils Einkaufslisten." Ich stehe auf, weise auf die Wachsmalstifte hin. Beim setzen sagt Bugs: "Ich frag' mich, was die Lehrer hier machen." Zwei Kinder wollen Stifte, waehrend ich sie verteile fragt ein drittes wie man 'Phone' buchstabiert. Ich zoegere kurz. Und buchstabiere P H O N E. Warum? Weil es so real, so wirklich ist. Enrico murmelt im Vorbeigehen: "Die Bettelmentalitaet ist der Hammer." Ich packe mehr Stifte aus. Enrico schaut mich an, fragt kopfschuettelnd: "Wie soll man das den Kindern in Deutschland erklaeren?"

Mira erklaert einer unserer Schuelerinnen, es seien deutsche Kinder, hoechstens in der fuenften Klasse. Erlaeutert, dass diese kein Geld verdienen, auch nur Schueler sein. Das Maedchen streicht phone (3) durch. Book, pen, bicycle bleiben stehen. Es ist fuenf vor drei. Fast alle Briefe sind fertig geschrieben, die meisten auch mit Malereien versehen. Enrico macht von jedem Kind ein Einzelfoto; die Kinder in Deutschland sollen ein Bild zum Brief bekommen, so wie unsere Kinder je ein Bild aus Deutschland erhalten haben. Der Regen ebbt ab. Wir verabschieden uns von den Kindern.

Meine Stimme durchbricht unser verregnetes Schweigen: "Wisst Ihr was ich Positives aus diesem Nachmittag ziehe?" Ein zynisches Laecheln zuckt ueber meine regennassen Zuege. "Ich kann 'nen Blogeintrag drueber schreiben." Mira widerspricht mir, dass sei nicht das einzige, immerhin hatten einige Lesen und Schreiben koennen, es sei auch schoen, wie die Kinder sich gegenseitig geholfen haben. Wiegen diese kleinen positiven Aspekte die negativen auf?

In mir hat sich Enricos Frage verfangen, ich krieg' sie nicht mehr los: "Wie soll man das den Kindern in Deutschland erklaeren?" Kann ein deutsches Kind verstehen, dass ein ghanaisches Kind durch Fernsehbilder, durch Touristen, durch Entwicklungsfachkraefte, durch Freiwillige so gepraegt wird, dass es denkt alle Menschen mit weisser Haut Leben im Ueberfluss. Mit den Materialien, mit dem Rucksack, mit der Kamera bin ich Teil des Problems, denn ich vermittle den Eindruck von Wohlstand. Bin ich noch Individuum, bin ich noch Robert? Oder bin ich der reiche Weisse? Mir sieht man die Millionen Arbeitslosen in Deutschland nicht an, mir sieht man den Frust der 20% Arbeitslosen in Spanien nicht an, mir sieht man die gewaltsamen Demonstration gegen griechische Sparmassnahmen nicht an. Das koennen die Kinder nicht wissen, das koennen die Kinder auch nicht verstehen, das verlange ich auch nicht. Aber das Bild des reichen Weissen beschraenkt sich ja auch nicht auf unsere Kinder. Die Medien, vor allem die Filme hier zeigen die schoenen Seiten Europas, von Demonstrationen, Arbeitslosigkeit und Krisen ist nichts zu sehen. Es wird auch nicht gezeigt, dass Wohlstand auf Grundfesten beruht; auf Arbeitswillen, Verantwortungsbewusstsein, Wettbewerb und Leistung. So entsteht ein paradiesisches Bild Europas, dass auch zur Forderung nach Gaben einlaedt, die haben mehr, die koennen geben, die muessen geben, manch ein Politiker spraeche da vielleicht von spaet-roemischer Dekadenz.

Nicht vergessen darf man aber, dass traditionell in Ghana die reichste Familie des Ortes in gewisser Weise die Funktion einer Kreditanstalt uebernimmt. Im kulturellen Verstaendnis eines Ghanaers ist es also vollkommen normal den Reicheren um finanzielle Hilfe zu bitten, wobei auch dabei stets eine Gegenleistung in irgendeiner Form erbracht wird. Warum wird uns scheinbar keine Gegenleistung erbracht? Vielleicht weil wir nicht Teil dieses Sozialstaats-Ersatz sind. Vielleicht weil wir nicht ein eigentlicher Teil der gemeinschaftlichen Gesellschaft sind. Vielleicht weil alles was wir bringen als Spende angesehen wird, fuer die man keine Gegenleistung bringen muss. Vielleicht weil wir so reich sind, dass keine Gegenleistung noetig ist. Vielleicht, vielleicht.... ich weiss es nicht.

Wie immer gilt: Alle hier geschilderten Erlebnisse und Erfahrungen sind als exklusive Ereignisse zu betrachten, es handelt sich hierbei um meine persönlichen Erfahrungen und meine Schlussfolgerungen, die keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit haben.

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