Freitag, 25. Juni 2010

Es ist an der Zeit ...

Es ist Dienstagabend, gerade einmal fuenf Minuten nach halb elf. Meine Mitbewohner sind schon vor mehr als einer halben Stunde ins Bett gegangen. Nur ich kann nicht schlafen, ich hab' es wieder. Ich hab' nur noch kein Wort dafuer. Ich erinner mich nicht daran, wann ich es zum ersten Mal fuehlte, es mag schon Jahre zurueckliegen. In den letzten zwoelf Monaten hatte ich es so viele Male. Dieses Gefuehl. Es hat mich schweben lassen, es hat mich zu Boden gezerrt und es hat mich neu aufleben lassen. Das Gefuehl vergehender Zeit.

Zeit ist geraeuschlos, unsichtbar, unantastbar, unbegreiflich. Wir benennen sie, wir teilen sie ein in Jahre, Tage, Stunden, in dem vergeblichen Versuch sie dadurch greifbarer zu machen. Sie ist unumkehrbar, unaufhaltsam, unerbittlich. Eine sanfte Gewalt.

Es ist nahezu eine Stunde vergangen seitdem ich begonnen habe zu schreiben, das fuehle ich nicht, das sagt mir die Anzeige meines Laptops. Gerade kann ich es wieder einmal nicht fassen, wie konnte die Zeit so vergehen? Ist das ueberhaupt das richtige Wort "vergehen", fliesst die Zeit nicht eher? Mir gefaellt die Metapher des Flusses. Aber hat nicht jeder Fluss einen Ursprung? Wo beginnt die Zeit und wo endet sie?

Jetzt- Das ist Mittwoch, ca. viertel nach fuenf und ich bin schon wieder wie besessen, eigentlich sollte ich mein Fitnessprogramm durchziehen, aber in mir spuere ich diese Unruhe. Seit Wochen tragen ich mich mit diesen Gedanken. Zeit- das ist Physik, Philosophie, Psychologie. Lange galt in der Physik Isaac Newtons Annahme der "absoluten Zeit", die noch heute unserem deutschem Alltagsverstaendnis zugrunde liegt: "Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfliesst an sich und vermoege ihrer Natur gleichfoermig und ohne Beziehung auf irgendeinen aeusseren Gegenstand." Gleichfoermig? Ohne Bezug auf aeussere Gegenstaende? Etwas in mir straeubt sich dagegen. Es gibt Abschnitte meines Aufenthalts hier die scheinen nicht zu enden, und doch ist es nur das was wir einen einzigen Tag nennen. Es gibt Ereignisse, ich blinzle, und mein Kalender teilt mir mit, es sei eine Woche vergangen. Wie soll das "absolut", wie soll das "gleichfoermig" sein? Nicht umsonst stattet die deutsche Sprache uns mit den wunderschoenen Worten "kurzweilig" und "langweilig" aus. Zeitempfinden ist subjektiv, Zeitmessung ist objektiv und die Zeit selbst?

Jetzt haeng' ich fest, im Kopf habe ich das Bild einer undurchdringlichen, wabernden Substanz, undurchdringlich und doch nicht zu beruehren... so komme ich nicht weiter, ich blaetter durch eine der "SPIEGEL"-Ausgaben die auf unserem Wohnzimmertisch liegen. Ich stosse auf einen Artikel, der mit einem Foto versehen ist. Gezeigt wird die Tafel eines Klassenzimmers mit dem Anschrieb: "Zeit ist/bringt Geld" Als waer die Thematik nicht schon kompliziert genug, nun kommt auch noch "Zeit" als Wirtschaftsgut hinzu. Was mir dieser Satz aber vor allem bewusst macht ist, dass Zeitverstaendnis kulturell bedingt ist. In Deutschland scheint mir das Verstaendnis der "absoluten Zeit" zu gelten, sie macht Zeit zu etwas Transzendentem. Die Zeit scheint losgeloest vom Individuum zu sein, ihm uebergeordne, parallel zu existieren als gaebe es irgendwo eine gigantische Uhr, die tickt, die Abhaengigkeit schafft. Bedeutet diese Vorstellung, dass mir Zeit zugesprochen wird. Kommt daher vielleicht die Formulierung "man solle keine Zeit verlieren"?

Oder doch eher von der Vorstellung, dass "Dasein" durch Entscheidungen beeinflusst wird, jegliche Entscheidungsspielraeume jedoch aufgrund des unweigerlichen Todes endlich sind. Der Mensch rechnet mit Zeit, weil er im Wissen um seine Endlichkeit fuer sich und andere sorgt. Gilt es deshalb "keine Zeit zu verlieren"? Und schon wieder verheddere ich mich, in diesem Wirrwarr von Zeit, Zeitempfinden und Zeitverstaendnis. Ich lasse meine Augen ueber unsere Wohnzimmerwaende schweifen, da stehen viele Sprueche von uns, fast alle haben einen zeitlichen Aspekt. Da steht "Lieber spaet als nie" und "Abwarten, Tee trinken", mein Blick bleibt haengen. Ich laechle. An unserer Wand steht "Zeit ist relativ".

Seit Einsteins Relativitaetstheorie liegt fuer viele Physiker der Ursprung der Zeit im Urknall. Zeit, Raum, Materie, Gravitationsfelder alles steht in Relation mit und zu einander. Alles ist relativ. Von Newtons "absoluter Zeit" kann folglich keine Rede sein. Ist der Urknall also der Quellort des Stroms der Zeit? Kann ich Stromschnellen schaffen? Daemme bauen? Das Flussbett erweitern damit sie traeger dahin fliesst?

Es ist der Abschnitt in der Woche, den wir Donnerstag nennen, seit wenigen Wochen ist es kuehler und regnet mehr, ich bin erkaeltet. Ich mache wieder kein Fitnessprogramm, dafuer habe ich Zeit zu schreiben. Interessante Formulierung, oder? Hatte ich die Zeit vorher etwa nicht? Habe ich sie etwa dazu gewonnen? Ich habe mich doch lediglich entschieden meine Zeit anders zu nutzen. Ich komme wieder zur Relativitaetstheorie. Da ist von einer Eigenzeit die Rede. Das gefaellt mir, die Zeit durchdringt mich, ist Teil von mir, nichts Transzendentes (obwohl, sagt man nicht Gott lebt in uns allen? Das wuerde jetzt doch zu weit weg fuehren). Wenn Zeit ein Teil meines Seins ist, selbst wenn es nur ein Produkt meines Bewusstseins ist, dann kann ich keine Zeit verlieren, denn das bedeutete einen Teil meiner Selbst zu verlieren. Ich kann Zeit verschwenden, aber nicht verlieren.

Ich habe heute mal wieder viel ueber die deutsche Sprache nachgedacht. Es gibt faszinierende Formulierungen im Hinblick auf Zeit. Dabei ist mir aufgefallen, dass viele davon stark mit unseren Kulturvorstellungen korrelieren . "Ich hatte keine Zeit", "Zeit ist Geld", "Ich nehme mir die Zeit", darin sehe ich das Verstaendnis der "absoluten Zeit", das Verstaendnis der Zeit als einen oekonomischen Wert, der wiederum Abhaengigkeit schafft. In Ghana (so scheint es zumindest mir) wird Zeit anders aufgefasst und folglich auch anders mit ihr umgegangen. Ich sitze in einem Sessel unseres Wohnzimmers, erinnere mich an unzaehlige Trotro-Fahrten bei denen ich auf weitere Fahrgaeste wartete. Jetzt, in diesem Moment, der bereits beim Schreiben der Worte von Gegenwart zu Vergangenheit wurde, meine ich zu verstehen, warum Ghanaer kein Problem hatten so viel Zeit mit Warten zu verbringen. In ihnen scheint die Idee der Eigenzeit tief verankert zu sein, sie sind nicht abhaengig von einer "absoluten" uebergeordneten Zeit. Zeit als etwas Eigenstaendiges ist fuer sie wahrscheinlich ein befremdlicher Gedanke. Sie haben keine Zeit beim Warten verloren, denn sie ist ja Teil von ihnen.

Auf dem Weg nach Ankukrom aus dem Fenster des Trotros sehe ich die Mitarbeiter unseres Wohnkomplexes gemeinsam im Wachhaus des Eingangstor sitzen, sich unterhalten, palavern. Drei einhalb Stunden spaeter bei Rueckfahrt sehe ich sie noch immer (oder vielleicht schon wieder) dort sitzen. Ich frage mich, wie haben sie die Stunden, die Zeit genutzt? "Zeit nutzen" auch so eine schoene Formulierung. Doch damit halte ich mich nicht auf. Meine Gedanken springen weiter. Wie sollte man seine Zeit nutzen? Auf diese scheinbar komplexe Frage meine ich eine erstaunlich simple Antwort zu finden: Jeder sollte seine Zeit so nutzen, dass er gluecklich ist. Wenn das bedeutet, taeglich fuer Stunden mit anderen zusammen zu sitzen und zu palavern, gut. So lange es mir frei steht meine Zeit nach meinem Willen zu nutzen, denn Palavern wuerde mich nicht gluecklich machen. So wie ich den Gedanken vollende, kommt mir das Wort Prioritaet in den Sinn- "Zeit" ist untrennbar mit dem Begriff Prioritaeten verbunden, diese wiederum sind kulturell bedingt. In einer eher kollektivistischen, phlegmatischen Gesellschaft hat das Gemeinsame Vorrang, zusammen sitzen, gemeinsam palavern, in einer eher individualistischen, leistungsorientierten Gesellschaft herrscht die Vorstellung Zeit effektiv, effizient, produktiv zu nutzen. Bevor ich die Maenner vom Tor aus den Augen verliere, schleicht ein weiterer Gedanke in mein Bewusstsein. Was weiss ich denn, worueber die Maenner diskutieren, es koennte vom letzten Fussballspieltag ueber die politische Agenda bis zu einem philosophischen Diskurs ueber die Zeit selbst einfach alles sein. Haetten sie ihre Zeit dann etwa nicht effektiv genutzt? Ich steige aus dem Trotro, mir wirbeln Ideen, Gedankenfetzen durch den Kopf. Zurueck im Haus faellt mir Spruch an unserer Wand in die Augen, da steht "Carpe diem".

Jetzt- Das ist Freitagabend. Kurz nach halb elf. Erneut kreisen meine Gedanken um Zeit, aber auch um Worte, um Zeitworte. "Zeit totschlagen" und "Zeitvertreib", zwei Formulierungen derer ich vor zwoelf Monaten kaum gedacht, ganz zu schweigen grosse Beachtung habe zukommen lassen. Wie sich doch die Zeiten aendern. (Ihr seht ich habe grossen Gefallen an Zeitworten gefunden) Aber zurueck zum Vertreiben und Totschlagen. Nach meinen vorangegangen Ueberlegungen sollte ich eigentlich zum Schluss kommen, dass bedingt durch die allgemeine Endlichkeit, ich jeden Augenblick, jeden Moment, jeden Zeitabschnitt, mag es Sekunde oder Stunde sein, hochschaetzen und auskosten sollte. Da erscheint mir der martialische Ausdruck des "Zeit-Totschlages" doch gerade zu ketzerisch, ebenso der des "Zeitvertreibs", auch wenn dieser immerhin nicht martialisch ist. Gleichzeitig (ich hab' wirklich Freude daran) entsinne ich mich aber der unzaehligen Situationen, in denen ich hier wartend wohl genau das getan habe, "Zeit totgeschlagen". Wie sollte ich diese Momente, denn schaetzen, geniessen, auskosten? In mir regt sich was... da war doch was. Ich steh' vor einer gedanklichen Wand. Ich schau an die tatsaechliche, sichtbare Wand. "Zeit ist relativ". Das war's. Ich brauche diese Momente nicht zu schaetzen, auszukosten, zu geniessen. Ich habe die Kontrolle, ich kann sie verfliegen lassen, ich kann Stromschnellen schaffen. Buendel ich meine Gedanken, meine Aufmerksamkeit, meine Taetigkeit auf etwas, das mir Freude bereitet, das schoen ist, das aufregend ist, so wird aus einem nicht endenwollenden Warten eine kurzweilige Angelegenheit. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass es nicht moeglich ist das Flussbett zu erweitern ohne Langeweile zu schaffen. Schoene Momente sind zwangsweise kurzweilig und lassen sich nicht in die Laenge ziehen.

Jetzt- Das ist Montag. Soeben habe ich in Camus "Die Pest" folgende Worte gelesen, die wunderbar zu meinen Ueberlegungen wenige Tage zuvor passen: "Frage: was tun, um seine Zeit nicht zu verlieren? Antwort: sie in ihrer ganzen Laenge auskosten. Mittel: tagelang auf einem unbequemen Stuhl im Wartezimmer eines Zahnarztes sitzen; den Sonntagnachmittag auf seinem Balkon verbringen; Vortraege anhoeren in einer Sprache, die man nicht versteht; in der Eisenbahn die laengsten und umstaendlichsten Strecken fahren, selbstverstaendlich stehend; am Vorverkaufsschalter eines Theatersschlange stehen und keine Karte loesen usw. usw." Mag die Zeit auch nicht verloren sein, derer man eindruecklich bewusst ist, die man traege dahin troepfeln spuert, weil sie sich nicht in Aufregendem verfluechtigt, sich nicht im Schoenen verliert, so ist sie doch verschwendet. Was Camus' Tarrou "nicht verlieren" sogar "auskosten" der Zeit nennt, empfinde ich als Zeitverschwendung. Auf Tarrous Weise mag man das Flussbett erweitern, aber eine solche Dehnung der Zeit widerspricht meinem inneren Drang, ich ziehe das Kurzweilige, das Aufregende, das Schoene vor. Die Stromschnellen.

Die Kopflehne meines Sessels reibt an der Wand. Ich stehe auf, um den Sessel zurechtzuruecken. Der Spruch an dieser Wandstelle ist ein wenig verwischt, aber fuer mich dennoch seit kurzem klarer als zuvor: "Der Tag ist das, was man daraus macht".

Heute: Das ist 30 Tage vor Heimkehr. 30 Tage, die eine kleine Ewigkeit oder ein Blinzeln in einer Stromschnelle sein koennen.

Letztlich ist es relativ.

1 Kommentar:

  1. Lieber Robert, das, was Du gerade erlebst, ist "Bewusstheit". Nimm es als Geschenk! Viele Menschen werden alt, ihr Leben vergeht, bevor sie in diesen Zustand kommen. Ghana ist eben mehr als "nur" eine "Auszeit". Reife ist auch ein Begriff, der mit Zeit zu tun hat.

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